Migration und Klimagerechtigkeit – Was sind die zentralen Herausforderungen? Wie erreichen wir ein nachhaltiges und wirksames Cross-Over?
Fünf Fragen und (erste) Antworten von Aktivist:innen aus unterschiedlichen Netzwerken sozialer Bewegungen.
Vorbemerkung: Für die zweite Ausgabe des Trossenstek entstand in der Redaktionsgruppe die Idee, ein Cross-Over-Gespräch zwischen Aktivist:innen der AntiRa- und der Klimagerechtigkeitsbewegung zu führen. Einerseits gibt es aktuell verstärkte Bemühungen um ein „Kämpfe verbinden“ zwischen diesen beiden Bereichen. Zum zweiten steht mit einer absehbaren Regierungsbeteiligung der Grünen nach den Bundestagswahlen im Herbst die Frage im Raum, ob dies den sozialen Bewegungen neue Handlungs- und Durchsetzungsmöglichkeiten verschafft – oder eher die Gefahr des gegeneinander Ausspielens von AntiRa und Klima mit sich bringt. Gründe genug jedenfalls, zu versuchen die Debatten zu vertiefen.
Zunächst haben wir als Redaktionskollektiv fünf Aktiven mit diversen Erfahrungshintergründen und unterschiedlichen praktischen Ansatzpunkten die folgenden Fragen gestellt. Der Prozess lief schriftlich und parallel in zwei Runden ab, die direkten gegenseitigen Bezugnahmen blieben entsprechend begrenzt. Dennoch denken wir, dass die folgenden Antworten einige spannende Anregungen bieten und damit hoffentlich zur weiteren Diskussion motivieren. In den nächsten Ausgaben des Trossenstek werden wir uns jedenfalls um Fortsetzungen bemühen.
Frage 1: Wo seht ihr die wichtigsten inhaltlichen Verbindungslinien zwischen Antirassismus, Migration und Klimakrise?
Nene (aktiv im Black Earth Collective*)
Alle drei Aspekte stehen in einem engen Zusammenhang. Die Migrationspolitik ist seit jeher von Rassismus geprägt, Deutschland kann bis heute nur zögerlich anerkennen, dass wir eine von Migration geprägte Gesellschaft sind und die Klimakrise/Wandel wirkt als Verstärker dieser Probleme. Migrationsbewegungen werden in Zukunft noch stärker als heute vom Klimawandel geprägt sein und rassistische Agitationen in diesem Bereich zunehmen, sodass ich hierin die zentrale Herausforderung sehe, die eng mit Fragen der Klimagerechtigkeit verbunden ist. Die Klimakrise ist eine soziale Krise und jede klimapolitische Maßnahme muss auf ihre Sozialverträglichkeit hin überprüft werden.
Riadh (aktiv bei Afrique Europe Interact*)
Die Klimabewegung muss unter dem Dach der antirassistischen Bewegung stehen, genauso wie es die Bewegung für Bewegungsfreiheit tut. Die Klimaveränderungen wirken sich in den Ländern des Globalen Südens besonders stark aus, und daher ist die Forderung nach Klimagerechtigkeit letztendlich eine Forderung nach Globaler Gerechtigkeit.
Lena (aktiv bei Am Boden bleiben*)
Auch für mich gibt es nicht nur Verbindungslinien. Eigentlich ist das derselbe wichtige große Kampf für eine gerechte Gesellschaft, in der alle ein würdiges Leben führen können, jetzt und zukünftig. Leider ist Klimapolitik (noch lange) nicht dasselbe wie das, was viele von uns unter KlimaGERECHTIGKEIT verstehen. Manchmal sogar das Gegenteil, wenn manche Maßnahmen wie Offsetting oder Geo-Engineering Ungerechtigkeiten sogar verschärfen und neokoloniale Muster haben.
Doro (aktiv bei Solidarity City* und We`ll Come United*)
Selbstorganisationen von Geflüchteten thematisieren schon seit Jahrzehnten, dass ein extrem ungerechtes Weltwirtschaftssystem Lebensgrundlagen zerstört und damit Menschen zur Flucht zwingt. „Wir sind hier weil ihr unsere Länder zerstört“. Klimawandel zerstört schon seit Jahren die Lebensgrundlagen vieler Menschen in anderen Kontinenten und ist damit auch Fluchtursache. Ein Wirtschaftssystem, das den Profit in den Mittelpunkt stellt, führt zu Ungleichheit und zementiert diese immer weiter.
Eine Klimabewegung, die sich Klimagerechtigkeitsbewegung nennt, wird diese Ungleichheit bekämpfen, nicht „climate change“, sondern „system change“.
„Fluchtursachen bekämpfen“ bedeutet im offiziellen Diskurs vor allem, Fluchtbewegungen nach Europa zu bekämpfen. Das ist nicht unser Fokus. Wir müssen immer wieder in den Mittelpunkt stellen, dass es darum geht, gegen die Zerstörung der Lebensgrundlagen der Menschen im globalen Süden zu kämpfen. Es geht um das Recht zu Bleiben und das Recht zu Gehen. Und dafür brauchen wir die Verbindung mit den Bewegungen des globalen Südens.
Die Folgen der klimafreundlichen Maßnahmen müssen immer auch unter dem Blickwickel ALLER Menschen betrachtet werden und einbeziehen, was die Dinge für unterschiedliche Gruppen bedeuten (Fliegen z.B. auch als eine relativ sichere Möglichkeit des Fluchtweges). Letztendlich ist Anti-Rassismus so etwas wie ein Querschnittsblick. Alle Bewegungen sollten mit dem prüfenden Blick betrachtet werden – und sich selbst betrachten – inwieweit sie rassistische Strukturen angreifen oder verfestigen.
Alexis (aktiv bei Attac* und in der Ende Gelände Ortsgruppe Frankfurt*)
Antirassismus ist natürlich per definitionem eine analytische und praktische Achse von Klimagerechtigkeit. Klimagerechtigkeit ist ja ein strategisches Konzept, das von sozialen Bewegungen lanciert wurde, um einer marktförmigen und technokratischen Klimapolitik eine andere Perspektive entgegen zu setzen bzw. die weitergehenden Forderungen von sozialen Bewegungen programmatisch zu bündeln.
Los ging es mit diesem Konzept, als sich bei den UN-Klimaverhandlungen in Bali im Jahr 2007 das Netzwerk Climate Justice Now! aus kritischen NGOs wie Focus on the Global South und Bewegungen wie La Via Campesina gründete. Es waren also vor allem Akteure aus dem globalen Süden, die den Startschuss für die „Karriere“ dieses Konzepts gaben und damit nicht nur die Klassen- und Gender-Dimension, sondern auch die rassistische Dimension der Klimakrise und auch vieler Klimapolitiken anprangerten. Aus einer zumindest kapitalismuskritischen – aber letztlich antikapitalistischen – Perspektive ist das strategische Konzept Klimagerechtigkeit ein Instrument, die unterschiedlichen sozio-ökonomischen Kosten der Klimakrise für verschiedene Bevölkerungsgruppen auf diesem Planeten zu fassen. Und zudem ein Werkzeug, um ein Schlaglicht auf die Profiteure des fossilistischen Kapitalismus zu werfen. In diesem Kontext war es kein Zufall, dass das allererste Klimaaktions-Camp in der Bundesrepublik ein Antira-Klimacamp war – 2008 war das, in Hamburg. Konkret zu Migration: Schon von Anfang an gab es in der Bewegung für Klimagerechtigkeit die Forderung nach einer internationalen Konvention, die die Rechte von „climate migrants“ festschreiben sollte – insbesondere eine Verpflichtung des Nordens, diese Menschen aufzunehmen. Seit einiger Zeit wird diese dringliche Forderung unter dem Stichwort Nansen-Pass für Menschen, die aufgrund der Klimakrise migrieren müssen, aufgegriffen. Diese Idee bezieht sich auf den Pass für Staatenlose, der ab 1922 vom damaligen Hochkommissar für Flüchtlingsfragen des Völkerbundes namens Nansen herausgegeben wurde. Auf dem Weg zu globaler Bewegungsfreiheit finde ich das eine plausible Übergangsforderung.
Frage 2: Gemeinsamer Diskurs, Strukturen und Praxis? Wie seht ihr diese Ansprüche und Erwartungen zueinander? Gibt es Prioritäten oder ist das alles ein paralleler Prozess?
Nene:
Schon Audre Lorde, eine schwarze Feministin, die die afrodeutsche Frauenbewegung wesentlich geprägt hat, meinte: „there is no such thing as a single-issue struggle, because we do not live single-issue lives.“ Der schwarze Feminismus hat schon immer darauf verwiesen, dass wir soziale Ungerechtigkeiten nicht isoliert betrachten können. Auch wenn es sich im Aktivismus noch nicht durchgesetzt hat, wir müssen Protest und Aktionsformen intersektional denken und adressieren, vor allem dann, wenn wir realpolitisch auch Veränderungen erreichen wollen.
Riadh:
Als Afrique-Europe-Interact ist uns der Kontakt zur Klimabewegung sehr wichtig und wir sind auch zukünftig an weiteren Kooperationen interessiert. Wir finden es unabdingbar, dass sich die Klimabewegung hier weiter mit dem Globalen Süden vernetzt. Und das passt zu unserem transnationalen Netzwerk mit Aktivist:innen in Nord- und Westafrika. Durch unsere Kontakte zu Bäuer:innen in Mali oder im Kongo schaffen wir immer wieder Öffentlichkeit zu Klimakatastrophen wie zum Beispiel zu den zunehmenden Überschwemmungen in den letzten Jahren. Wir stehen also in direktem Kontakt mit Betroffenen, solidarisieren uns und skandalisieren gleichzeitig die grundlegenden Hintergründe.
Lena:
Wichtig ja. Und es gibt gerade inzwischen in der Klimagerechtigkeitsbewegung viel Bildungsarbeit und Vernetzung mit AntiRa-Akteuren. Aber einen gemeinsamen Diskurs, gemeinsame Strukturen und eine gemeinsame Praxis haben wir dennoch nicht wirklich. Manchmal glaube ich, das macht auch Sinn – denn es muss auch spezifisches Know-How von unten zu all diesen Themen geben, es braucht auch sehr konkrete Forderungen und Aktionen. Andere Male bin ich verunsichert und frage mich, ob wir nicht alle unsere Teilkämpfe beiseite lassen sollten und für eine umfassende Umverteilung (innerhalb Gesellschaften und zwischen Nord und Süd), für die Abschaffung von Reichtum und Armut, einstehen sollten. Für Vermögens- und Einkommensgrenzen, Schuldenerlass und Reparationszahlungen. Würde dies nicht sehr viele Wurzeln von Flucht, Gewalt, Klimazerstörung angreifen? Auch von Rassismus und patriarchalen Strukturen, wenn auch nicht alle. Im Vergleich dazu kommen mir viele Cross-Over-Projekte so vor, als würden sie immer an der Oberfläche kratzen, es fehlt einfach oft an der Zeit, wenn man in den Teilkämpfen so stark drin steckt…?
Doro:
Einen gemeinsamen Prozess gibt es (noch) nicht; den Wunsch, die Kämpfe zu verbinden, gibt es immer wieder. Erfreulich!
In den (Alltags)Kämpfen gegen Abschiebung, für Bleiberecht, für die existenziellen Rechte von Geflüchteten (das ist mein zentraler AntiRa-Zusammenhang) rücken die längerfristigen Perspektiven leider oft in den Hintergrund. Neben diesen Kämpfen und dem Versuch, das ganze in größere Zusammenhänge einzuordnen und auch in politische Aktionen umzusetzen, bleibt oft zu wenig Zeit, sich in einen gemeinsamen Diskurs zu begeben und sich tiefergehend mit dem Klima-Thema zu beschäftigen.
Andererseits ist Klima über das Thema Flucht natürlich auch immer präsent (siehe oben). Lokal haben wir die Erfahrung gemacht, dass FFF auch für Antira-Mobilisierungen zu aktivieren sind. Und ebenfalls in unserem lokalen Global Strike Bündnis wird versucht, die Themen zu verbinden. Bisher eher als ein Nebeneinander, aber es ist ein Anfang.
Vielleicht noch daneben: die Anti-Abschiebekämpfe sind ganz existenzielle und bieten einerseits – trotz des großen Roll-Back – auch immer wieder Raum für kleine Erfolgserlebnisse (zum Beispiel über Kirchenasyl und Bürger*innenasyl). Andererseits binden sie viel Kraft, die dann für anderes fehlt.
Bei We’llCome United gab es in den Debatten beide Positionen: Den Wunsch nach mehr Verbindung, weil vor allem die Geflüchteten aus afrikanischen Ländern schon lange mit den heftigen Auswirkungen des Klimawandels konfrontiert sind, andererseits die Befürchtung, dass der Kampf gegen Abschiebungen, der Kampf gegen den rassistischen Normalzustand in den Hintergrund rücken könnte, wenn wir uns mit der Klimabewegung zusammen tun.
Alexis:
Das gesellschaftliche Potential, welches aus einer „system change“ Perspektive Politik macht, ist in den letzten fünf, sechs Jahren deutlich gewachsen. Das ist erfreulich, trotzdem ist und bleibt es begrenzt. Der Pool an Menschen, die über längere Phasen aktivistisch hochaktiv sind, ist einfach nicht unerschöpflich. Insofern ist es sehr fruchtbar, wenn gemeinsame Diskurse und eine gemeinsame Praxis möglich sind, um eine gegenhegemoniale Kraft zu entwickeln. Im Kontext der globalisierungskritischen Bewegung zu Beginn der Nuller Jahre war das meines Erachtens der Fall, oder im Zuge der Anti-Austeritäts-Proteste in vielen europäischen Ländern während des letzten Jahrzehnts. Angesichts dessen, dass die neoliberale Hegemonie der letzten 30 oder 40 Jahre gerade beginnt zu bröckeln, wären neue Regenbogen-Allianzen aus unterschiedlichen Akteuren sehr sinnvoll, um die Möglichkeitsfenster, die es für unsere Forderungen jetzt gibt, tatsächlich zu nutzen. Das ist ziemlich schwierig, weil jedes einzelne Projekt zeitliche, finanzielle etc. Kapazitäten konkret bindet. Aber neue Versuche sind es wert!
Frage 3: Welche praktischen Ansätze von Cross-Over-Projekten und -Mobilisierungen haltet ihr für beispielhaft? Oder habt ihr ganz neue Ideen?
Nene:
Ein Beispiel, auf das ich gerne verweise, ist ein Protest von Black Lives Matter UK aus 2016, da haben die einen Flughafen blockiert, um auf die Schnittmenge rassistischer und klimaschädlicher Politik zu verweisen. Außerdem waren es weiße Körper, die dabei an der Frontline (der Fahrbahn also) der Polizeigewalt ausgesetzt waren. Dieser Protest ist ein super Beispiel für einen intersektionalen Anspruch und wie Klassismus, Rassismus und Klimakrise zusammengebracht werden können. Das Beispiel aus Österreich sollte uns eine Lehre sein (siehe Frage 5). Wir müssen darauf achten, dass die Klimafrage nicht zu Ungunsten von Fragen der Migration geht.
Riadh:
Wir finden die Idee mit einer Aktion am Flughafen, wo die Kämpfe gegen Abschiebungen und den Klimawandel an einem Ort verknüpft werden, spannend. Außerdem sind wir weiterhin sehr interessiert daran, das Thema Klimareparationszahlungen in den Mittelpunkt von Aktionen zu rücken und auf diese Weise verschiedene Kämpfe miteinander zu verbinden.
Doro:
Von den konkreten Projekten/Bewegungen, die ich kenne, verbindet Afrique Europe Interact am ehesten die beiden Themen. Und „In welcher Gesellschaft“ versucht das natürlich auch. Aber gerade hier zeigt sich auch, wie schwierig das ist – kein Grund, es nicht weiter zu versuchen! Echte Cross-Over-Projekte kenne ich eher nicht. In dem Solidarity City Ansatz wurde der Versuch gemacht, verschiedene Themen miteinander zu verbinden und in einen Cross-Over-Prozess zu bringen. Leider sind die Prozesse nicht weiter gegangen, immer wieder stellt sich die Frage der Ressourcen. Für neue Ideen halte ich es für unabdingbar, sich mit den Betroffenen im globalen Süden zu verbinden und den dortigen Initiativen zuzuhören, ihnen Raum und Gehör zu verschaffen und die Kämpfe zu verbinden.
Alexis:
Zur Zeit ist es wohl am vielversprechendsten, klimapolitische Forderungen mit weiteren Themen zu verkoppeln. Das könnten konkrete Umverteilungsforderungen sein – im Bereich der Arbeitszeit, Mietenpolitik aber vor allem auch monetär. Das ist bisher zu wenig passiert, aber durchaus nicht chancenlos, weil gerade viel in Bewegung ist.
Es zeichnen sich zur Zeit meiner Meinung nach zwei Optionen der weiteren Entwicklung des Kapitalismus ab: eine weitere autoritäre Verhärtung neoliberaler Politik, die nicht mehr hegemonial ist, sondern immer stärker auf Repression angewiesen ist – wie in Frankreich, Brasilien oder Griechenland. Eine andere Dynamik scheint sich mit dem Start der Biden-Administration in den USA abzuzeichnen: Steuererhöhungen sind angekündigt, eine öffentliche Investitionsoffensive auf den Weg gebracht – Stichwort „Green New Deal“, neue Sozialleistungen zeichnen sich ab und ein Ende der „trickle down economics“ wird proklamiert. Wir erleben hier möglicherweise die Konturen eines „embedded neo-liberalism“, eines eingebetteten Neoliberalismus. Das neoliberale Modell wird auf diesem Pfad zwar nicht beseitigt, aber nicht mehr offensiv verfolgt und in einigen Punkten gebrochen.
Für uns ergeben sich in dieser Dynamik neue Optionen, emanzipatorische Forderungen durchzusetzen! Das heißt der Zeitpunkt ist jetzt, all unsere Forderungen auf den Tisch zu legen, zu sortieren und zu schauen, wo wir kurzfristig gewinnen können und welche neuen weitreichenderen Übergangsforderungen wir jetzt angehen können. Zweitens: Dies bedeutet absolut auch, dass wir angesichts des Höllenritts in die neue Heißzeit und der krassen neo-feudalistischen globalen Reichtumsverteilung einen neuen Horizont im Sinne von „system change“ skizzieren können und müssen. Mindestens dafür braucht es aber ein neues cross-over-Akteursgeflecht. Die politische Kunst wäre meines Erachtens zur Zeit, Klimapolitik mit Umverteilungsforderungen zu verkoppeln à la „Klima schützen, enteignen, umverteilen!“
Lena:
Ich versuche mal, ein praktisches Beispiel dafür aufzuzeigen, wie Klimapolitik mit Umverteilung und Antirassismus zusammengedacht werden können. Wir versuchen es zumindest im Bereich Flugverkehr:
Einerseits geht das natürlich wie von Nene und Riadh erwähnt über Flughafen-Aktionen – „Climate crisis is a racist crisis“ war die Botschaft in London 2016. Andererseits ist es wichtig, unsere Forderungen und Lösungsideen auf ihre sozialen Auswirkungen zu überprüfen und gemeinsam zu diskutieren. Über 80 Prozent der Weltbevölkerung ist noch nie im Flieger gesessen. 1 Prozent verursacht 50 Prozent der Flugemissionen. Die Lösung kann nicht sein, dass alle so viel fliegen wie aktuell die europäische Mittel- und Oberschicht – wäre das gerecht? Leiden tun doch nicht alle gleich unter den Folgen. Es braucht also eine Einschränkung, vor allem im Globalen Norden: Damit Fliegen im Vergleich zu Bahnfahren nicht so billig bleibt, weil Steuern auf Kerosin und Tickets fehlen, braucht es unter anderem Steuergerechtigkeit. Und doch kann das heißen, dass sich manche hier den Urlaubsflug nicht mehr so leicht leisten können. Und was ist mit Menschen, die ihre Familie auf einem anderen Kontinent haben? Eine berechtigte Frage. Aber was ist mit Menschen, die von Krieg fliehen müssen und dann im Meer ertrinken, weil sie wegen rassistischer Grenzregimes in kein Flugzeug steigen dürfen? Was ist gerecht? Keine Flüge für niemanden? Ein Menschenrecht auf Flüge? Eine bedürfnisorientierte Einteilung in legitime und Bullshit-Flüge – wobei dies in der Umsetzung krass bürokratisch wäre?
Ein konkreter Vorschlag ist eine progressive Vielfliegersteuer. Auch Limits für Flughafenausbau und Kurzstreckenflüge, die für alle gleichermaßen wirken. Und natürlich ein Recht auf Flüge für Menschen in Krisengebieten. Dennoch müssen auch die Preise aktuell hochgehen. Auch hier komme ich zu dem Schluss: Es gibt keine komplett gerechten Klimamaßnahmen in einer ungerechten Welt. Denn erst wenn alle ähnlich viel Geld und Möglichkeiten haben, ist es wirklich klimagerecht, wenn Flüge aufgrund von Preisen oder Kontingenten weniger zugänglich wären als Züge. Schaffen wir diesen Gerechtigkeitskampf in der kurzen uns verbleibenden Zeit, bis die Kippeffekte die Erderhitzung unaufhaltbar beschleunigen? Schaffen wir ihn mit unseren aktuellen Strategien und Teilkämpfen?
Frage 4: Was sind eure konkreten Planungen für die kommenden Monate? Spielen dabei für euch die Bundestagswahlen eine besondere Rolle?
Nene:
Persönlich finde ich die kommenden Wahlen schon spannend, weil nach der Merkel-Ära endlich überhaupt mal eine Nicht-CDU-Politik möglich ist. Gleichsam erwarte ich auch unter der kommenden Regierung keine substanziellen Veränderungen, diese müssen weiterhin erstritten werden. Unsere Arbeit im Kollektiv richtet sich allerdings eher auf Betroffene und unsere Community, ob nun Baerbock, Scholz oder Laschet das Land anführt ist da sekundär.
Riadh:
Wir können uns vorstellen an weiteren Aktionen in den kommenden Monaten aus verschiedenen Bündnissen heraus aktiv zu werden. Der Fokus unserer transnationalen Arbeit verteilt sich auf viele Länder und daher fokussieren wir unsere Arbeit nicht besonders auf die Bundestagswahl.
Wenngleich die Bundesregierung auch in Nord- und Westafrika immer wieder Einfluss nimmt und zum Beispiel den Ausbau des europäischen Grenzregimes auf EU-Ebene vorantreibt. So gesehen begegnet uns deutsche Politik leider auch an vielen anderen Orten außerhalb der EU, wo wir aktiv sind.
Lena:
Wir überlegen gerade, ob wir Aktionstage für die Abschaffung von Bullshit-Flügen machen. Das Ziel wäre, dass durch Aktionen gegen Abschiebeflüge, Privatjetflüge, Nachtflüge, Kurzstreckenflüge usw. die Ungerechtigkeiten und die Links zwischen AntiRa und Klima deutlich werden. Sinnvollerweise dienen diese Aktionen auch dazu, kurz vor der Wahl oder während der Koalitionsverhandlungen politischen Druck auf die kommende Regierung auszuüben.
Doro:
Der Ansatz der solidarischen Stadt ist lokal erst einmal eingeschlafen; das Bündnis „solidarische Gemeinschaften“ befasst sich schwerpunktmäßig mit dem Kampf gegen die Abschiebehaft. Es ist allerdings auch ein Ort, an dem sich verschiedene Initiativen der praktischen Alltagssolidarität vereinen. Von dort ausgehend gibt es immer wieder den Versuch, sich (eher lokal) auch mit den Gruppen der Klimagerechtigkeit zu verbinden. Allerdings eher anlassbezogen und an einzelnen Aktionen orientiert.
We’llCome United leidet unter den Folgen von Corona, da physische Treffen seit letztem Sommer nicht stattgefunden haben. Die lokalen Initiativen sind mit den antirassistischen Themen (Anti-Abschiebekämpfe, Anti-Lagerinitiativen, Alltagsrassismus, etc.) beschäftigt. Eine grundsätzlichere Bestimmung wird erst wieder über physische Treffen möglich werden. Darauf werden wir uns auch in den nächsten Monaten konzentrieren. Wir freuen uns über die Initiative der Klimagerechtigkeitsbewegung, immer wieder auf die AntiRa-Bewegung zuzugehen und hoffen, dass möglicherweise eine gemeinsame Aktion entstehen kann.
Alexis:
In diesem Jahr wird es von Ende Gelände zum ersten Mal eine große ungehorsame Aktion geben, die sich gegen Gas-Infrastruktur richtet. Und zwar gegen den Neubau von Fracking-Gas-Terminals in Brunsbüttel, Ende Juli, Anfang August. Im Zuge dieser Aktion wird es auch darum gehen, die neokolonialen Dimensionen von Gasförderung weltweit zu thematisieren. Der Kontext der Bundestagswahlen ist für diese Aktion insofern relevant, als dass ein rascher Ausstieg aus fossilem Gas – anders als aus Kohle – eine neue Konfliktachse aufmacht. Denn auch wenn eine gestärkte Grüne Partei in der Bundesregierung landet, bietet sich beim Gas-Sektor enormes Reibungspotential. Für einige Akteure der Klimagerechtigkeitsbewegung wird auch der Besuch einer zapatistischen Delegation Mitte diesen Jahres eine Rolle spielen. Schließlich kommt es nicht jeden Tag vor, dass Organisationen aus dem globalen Süden mit einer antikapitalistischen Programmatik, mit konkreten Anliegen, den Schritt in die Metropolen auf sich nehmen. „Überfahrt für das Leben“ nennen sie ihren Besuch. Welche reale Dynamik daraus hervorgeht ist zumindest für hierzulande noch völlig offen.
Frage 5: Nach den Bundestagswahlen am 26. September wird eine Regierungsbeteiligung der Grünen erwartet. Wir haben die „Klima schützen – Grenzen schützen“-Erfahrungen aus Österreich, wo die Grünen Menschenrechte für klimapolitische Forderungen verkauft haben. Wie groß seht ihr eine ähnliche Gefahr für Deutschland? Mit welchen Handlungskonsequenzen?
Nene:
Ich denke, dass wir leider davon ausgehen müssen, dass Ähnliches passieren kann. Daher ist eine unverhandelbare solidarische Praxis zwischen der starken Klimabewegung, allen voran FFF und antirassistischen Kämpfen zwingend notwendig, nur so können wir Druck aufbauen und der Politik zeigen, dass sie unsere Interessen nicht gegeneinander ausspielen kann.
Riadh:
Ja, das ist ein wichtiger Punkt, zumal es in der Partei der Grünen ja sehr unterschiedliche Strömungen gibt. Wir nehmen die Ängste vor diesem Szenario sehr ernst. In einem Bündnis zwischen CDU/CSU und Grünen ist eine politische Ausrichtung nach österreichischem Vorbild durchaus möglich. Es gilt, frühzeitig gegen dieses Szenario Lärm zu machen und unsere Forderung für das Recht auf Bewegungsfreiheit dagegen zu setzen.
Lena:
Ich schätze die Gefahr auch als relativ groß ein, wenn wir eine schwarz-grüne Regierung bekommen. Bei unwahrscheinlichem Rot-Rot-Grün hätte ich da natürlich mehr Hoffnungen. Hinsichtlich dessen, was wir eigentlich bräuchten – einer massiven Umverteilung von Reichtum, Privilegien, ökologischen Rucksäcken und Bewegungsfreiheit – sehe ich wenig Grund für Optimismus.
Ich bin aber auch hier in einem Dilemma: Es macht ja aufgrund der dringlichen Klimakrise, die eben gerade ärmere Gesellschaften andernorts viel massiver betrifft als uns, trotzdem Sinn, auch Druck auf dringliche Klimamaßnahmen aufzubauen. Wichtig wäre, dass dabei aber immer auch die Gerechtigkeitsaspekte betont werden, dass die Klimagerechtigkeitsbewegung antirassistische Forderungen auch stark unterstützt, und dass ungerechte Scheinlösungen massiv Gegenwind von uns bekommen. Mit Scheinlösungen meine ich zum Beispiel Offsetting (CO2-Kompensationsprojekte, häufig im Globalen Süden), aber auch Atomenergie. Viele auf Technologie fokussierte Lösungsstrategien, die neue Probleme verursachen.
Doro:
Leider sehen auch wir die Gefahr als sehr groß an, dass es ähnlich wie in Österreich ausgehen könnte. Sowohl die Erfahrungen aus Baden-Württemberg als auch vor allem aus Hessen zeigen, dass die GRÜNEN kein Garant für eine gute Migrationspolitik sind. In den vergangenen Kommunalwahlen in Hessen zeigte sich, dass das Thema Migration eher gar nicht thematisiert wurde. In der hessischen Landesregierung wird deutlich, dass die GRÜNEN keine Position gegen den CDU-Innenminister beziehen. Die Hoffnung, dass sie es „wenigstens etwas besser“ machen, kann man von Hessen ausgehend nicht hegen. Hier wird Kritik an besonders skandalösen Abschiebungen von der GRÜNEN-Sprecherin mit dem Hinweis auf „Recht und Ordnung“ beantwortet.
Dennoch halten wir es für sinnvoll, im Vorfeld der Wahlen Druck aufzubauen und auch realpolitische Forderungen an die GRÜNEN zu stellen, wie es z.B. das neue Bündnis #unverhandelbar! tut: sofortige Evakuierung der Lager an den Außengrenzen und Förderung der kommunalen Aufnahme; staatliche Seenotrettung und Entkriminalisierung der privaten Seenotrettung; Schaffung sicherer Fluchtwege und Bleiberechtsregelungen für die, die schon hier sind.
Und das, ohne unsere Maximalpositionen in der politischen Bewegung aufzugeben.
Alexis:
Haben die Grünen in Österreich tatsächlich substantielle klimapolitische Gewinne herausschlagen können? Den Eindruck habe nicht. Das sieht doch durch die Bank desaströs aus … man möge mich korrigieren. Wir sind nicht mehr in Zeiten von Kosovo-Krieg, Steuersenkungen und Hartz IV – kurz: Schröder & Fischer – von daher gilt es auszuloten, inwiefern die gestärkten Grünen ab September generell druckempfindlich sind. Im Bezug auf Migration: In puncto Seenotrettung, Familienzusammenführung, Lager auf den Ägäis-Inseln etc. könnten Geländegewinne möglich sein. Wie weit das gehen kann, hängt von den konkreten Konstellationen ab. Zu Bedenken ist, dass eine grundsätzliche Neuausrichtung bei dem Umgang mit Flucht letztlich auch innerhalb der Europäischen Union abgestimmt werden müsste…
Black Earth ist ein QTBIPoC-Klimagerechtigkeitskollektiv mit Sitz in Berlin, das sich aus dekolonialer und intersektionaler Perspektive mit dem Klimawandel beschäftigt.
https://blackearthkollektiv.org/https://blackearthkollektiv.org/
Afrique-Europe-Interact ist ein transnationales, ausschließlich ehrenamtlich arbeitendes Netzwerk, das Ende 2009 gegründet wurde. Beteiligt sind Basisaktivist_innen vor allem in Mali, Togo, Burkina Faso, Guinea, Tunesien, Marokko, Deutschland, Österreich und den Niederlanden – unter ihnen zahlreiche selbstorganisierte Geflüchtete, Migrant_innen und Abgeschobene.
https://afrique-europe-interact.net/2044-0-Das-Theater.html
Informationen in drei Sprachen: https://afrique-europe-interact.net
Am Boden bleiben ist eine Klimagerechtigkeitsinitiative, die sich für eine faire Reduktion von Flugverkehr einsetzt, insbesondere mit direkten Aktionen.
https://www.ambodenbleiben.de/
Solidarity City-Netzwerk: „Eine Stadt, aus der kein Mensch abgeschoben wird, in der sich alle frei und ohne Angst bewegen können, in der kein Mensch nach einer Aufenthaltserlaubnis gefragt wird, in der kein Mensch illegal ist. Das sind die grundlegenden Vorstellungen von einer Solidarity City.“
https://solidarity-city.eu/de
Welcome United ist ein bundesweites Netzwerk aus Selbstorganisationen und Aktivist:innen, mit Schwerpunkten auf die alltäglichen Kämpfe gegen Rassismus und Abschiebungen, bekannt aber auch durch drei große kraftvolle antirassistische Paraden in 2017, 2018 und 2019, die zu den größten antirassistischen Demonstrationen der letzten Jahre gehören.
https://www.welcome-united.org
Kontakt: agis@nadir.org
Attac: Das globale Attac-Netzwerk entstand ausgehend von Frankreich in der globalisierungskritischen/altermondialistischen Bewegungsphase Ende der 90er bzw. Anfang der Nullerjahre und wendet sich gegen die neoliberale Form der Globalisierung: Privatisierung, Deregulierung, Liberalisierung/Freihandel und Sozialabbau. Ein Fokus der Kritik ist die Konzernmacht im Finanzsektor.
www.attac.de
Ende Gelände (OG Frankfurt): Die Frankfurter Ortsgruppe ist Teil des bundes- bzw. europaweiten Bündnisses Ende Gelände, welches als Teil der globalen Klimagerechtigkeitsbewegung 2015 begonnen hat, Aktionen massenhaften zivilen Ungehorsams gegen die Tagebaue des Rheinischen Braunkohlereviers durchzuführen.
www.ende-gelaende.org