Solidarisch Wirtschaften

Solidarisch Wirtschaften für eine Welt ohne Grenzen

Von Elisabeth Voß, Berlin

Die globale Ausbeutungsökonomie eignet sich immer mehr Ressourcen an, um sie profitabel zu verwerten. Die Maximierung von Profiten geht zulasten von Menschen und Natur. Daneben gibt es jedoch weltweit vielfältige Wirtschaftsbereiche, die von diesen Verwertungskreisläufen abgeschnitten sind oder sich bewusst anders organisieren. Solche alternativen Wirtschaftsweisen entstehen in der Regel, weil das Benötigte nicht am Markt zu haben ist. Sie entspringen nicht immer aus freien Entscheidungen und moralischen oder politischen Begründungen, sondern auch aus Notwendigkeiten. Diese wirtschaftliche Selbsthilfe ist meist nur gemeinschaftlich möglich, in genossenschaftlichen Zusammenschlüssen, die verschiedene rechtliche Formen haben, oder ganz informell funktionieren können. Solche solidarökonomischen Ansätze sind gemeint mit dem Sozialforums-Slogan „people before profits“: Der Antrieb des Wirtschaftens ist die Erfüllung von Bedürfnissen, nicht die Gewinnerzielung.

Berlin (DE): Beim 3-tägigen „DirektKonsum“ im November/Dezember 2018 haben viele Solihandels-Initiativen ihre Produkte angeboten. Foto: Maria Schmidt – das kooperativ e.V.

Alternative Ökonomien

Die Alternativenbewegung nach 1968 stellte alles Bestehende in Frage, Herrschaftsverhältnisse ebenso wie Industrialisierung und Massenproduktion mit ihren sozialen und ökologischen Folgen, auch in der damals sogenannten „Dritten Welt“. Aus politischen Bewegungen entstanden selbstverwaltete Betriebe, um ohne Hierarchien und Ausbeutung zu arbeiten. Die ersten Kinderläden wurden von Frauen aus dem SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) gegründet, weil sie – ebenso wie die Männer – an politischen Diskussionen teilnehmen wollten, statt zuhause die Kinder zu hüten. Der Nachwuchs konnte dort weitgehend selbstbestimmt und antiautoritär aufwachsen. In den Kollektivbetrieben schöpften keine Chefs den Mehrwert ab, trotzdem gab es in Handwerkskollektiven, Fahrradläden und politischen Kneipen keine hohen Löhne, dafür viel Arbeit und Selbstbestimmung. Soziokulturelle Zentren und Tagungshäuser dienten der Freizeitgestaltung und politischen Bildung, kollektive Druckereien und Buchläden waren wichtig um revolutionäre Flugblätter zu drucken und politische Bücher zu beziehen, die oft anders nicht zu haben waren. Der heutige Bioboom hat seine Ursprünge in den ersten Food Coops und selbstverwalteten Bioläden. Ingenieurkollektive entwickelten ökologische Technologien, zum Beispiel zur Nutzung von Solarenergie oder zur schonenden Abwasserreinigung.

Selbstorganisierte ökonomischen Alternativen sind oft eingebunden in soziale Bewegungen. So besetzten beispielsweise 1980 Atomkraftgegner*innen in Gorleben einen Bauplatz für ein Zwischenlager und riefen die Republik Freies Wendland aus. In ihrem Widerstandsdorf gab es alle erforderlichen Gemeinschaftsanlagen und sogar eigene Pässe. Als dieses selbstverwaltete Gemeinwesen nach wenigen Wochen von der Staatsmacht zerstört wurde, blieb die Erfahrung, dass der Traum vom selbstbestimmten Leben nicht nur ein Traum, sondern für eine kurze Zeit Realität geworden war. Die Aktivistin „Winter“ berichtete bei der Räumung des Widerstandsdorfes im Hambacher Forst im Herbst 2018 von ähnlichen Erfahrungen.

Ein paar aktuelle Beispiele für Solidarisches Wirtschaften

Aus der AKW-Widerstandsbewegung sind im Wendland viele selbstverwaltete Betriebe und Projekte entstanden. Einige von ihnen praktizieren mit dem „Freien Fluss“ ein geldfreies System des Austauschs nach Bedürfnissen, ohne dass irgendetwas be- oder verrechnet würde. Sie gehen damit noch einen Schritt weiter als die Kommunprojekte, die innerhalb der eigenen Gruppe mit gemeinsamer Ökonomie leben. Im bundesweiten Kommuja-Netzwerk tauschen sie ihre Erfahrungen aus und unterstützen neue Gruppen.

Aus der herrschenden Tauschlogik möchte auch die Solidarische Landwirtschaft ausbrechen. Jede SoLaWi besteht aus einem oder mehreren Landwirtschaftsbetrieben, die von einer Gemeinschaft finanziert werden. In der Regel gibt es keine festen Monatsbeiträge, sondern es wird in anonymen „Bieterrunden“ so lange gesammelt, bis die Kosten gedeckt sind. Die Mitglieder bekommen die Ernte und teilen sie untereinander auf. Damit sind die Produkte keine Waren mehr, die Landwirt*innen können sich ohne finanzielle Sorgen um den Anbau kümmern, und die Gruppe hat ihre eigene Versorgung organisiert, ganz im Sinne der Ernährungssouveränität. Während SoLaWis nach dem genossenschaftlichen Prinzip der Mitgliederförderung funktionieren, ist es de venezolanischen Kooperative Cecosesola wichtig, nicht nur die Mitglieder, sondern die ganze Nachbarschaft solidarisch zu versorgen. Ihre Gemüsemärkte sind gerade in diesen Krisenzeiten von großer Bedeutung, ebenso wie das genossenschaftliche Gesundheitszentrum und das Bestattungsinstitut.

Barquisimeto (Bundesstaat Lara, VE): Die Kooperative Cecosesola betreibt neben großen Gemüsemärkten ein Gesundheitszentrum und ein Bestattungsinstitut. Damit versorget sie nicht nur ihre Mitglieder, sondern die ganze Nachbarschaft. Foto: Cecosesola

Aus der Schweizer Lehrlingsbewegung entstand Anfang der 1970er Jahre Longo Maï. Es ist heute ein Netzwerk von landwirtschaftlichen und handwerklichen Kooperativen in Frankreich, Österreich und der Schweiz, sowie in der Ukraine und in Costa Rica. In Deutschland gehört der Hof Ulenkrug in Mecklenburg-Vorpommern zu Longo Maï. Die Kommunard*innen sind bis heute politisch aktiv. Mit dem Europäischen BürgerInnenforum setzen sie sich unter anderem für Ernährungssouveränität und für die Rechte von Geflüchteten ein, und unterstützen bedrohte selbstverwaltete Projekte.

In Berlin gibt es seit 2012 ein Netzwerk von Kollektivbetrieben. Die anarchosyndikalistische Gewerkschaft FAU (Freie Arbeiter*innen Union) initiierte mit Union Coop einen kleinen Zusammenschluss selbstverwalteter Betriebe, die besondere Aufmerksamkeit auf die Arbeitsbedingungen der Kollektivist*innen richten. Während solche Kollektive den kulturellen Traditionen der Alternativökonomien entstammen und diese Unternehmensform ganz bewusst gewählt haben, entstehen Belegschaftsbetriebe eher aus Notsituationen, wenn die Arbeitenden ein von der Schließung bedrohtes Unternehmen übernehmen. Solche Kämpfe führen oft zu einer ausgeprägten Politisierung der Beteiligten. In Deutschland gibt es das kaum, während solche „rückeroberten Betriebe“ in Lateinamerika recht verbreitet sind.

Auch in Europa werden Betriebe besetzt. Ein ermutigendes Beispiel ist ScopTi bei Marseille. Früher hieß die Firma Fralib, gehörte zum Unilever-Konzern und stellte für diesen Lipton- und Elephant-Tee her. Die Arbeiter*innen besetzten den Betrieb, als er geschlossen und nach Polen verlegt werden sollte. Nach über drei Jahren gelang es ihnen 2014, für ausstehende Löhne und den Verlust der Arbeitsplätze eine Abfindung von insgesamt 20 Millionen Euro zu erkämpfen, darin enthalten auch die Maschinen. Heute produzieren sie in ihrem eigenen Unternehmen Teebeutel unter dem Markennamen 1336, denn so viele Tage dauerte die Besetzung.

In Thessaloniki besetzten Arbeiter*innen die Fabrik Vio.Me, als diese 2011 wegen Insolvenz geschlossen wurde, und kämpfen seither um ihr Recht auf ihren Arbeitsplatz. Früher wurden hier chemische Baukleber hergestellt, die Besetzer*innen haben die Produktion auf ökologische Reinigungsmittel umgestellt. Mit breiter solidarischer Unterstützung ist es bisher gelungen, die mehrfach versuchten gerichtlichen Versteigerungen zu verhindern.

Rimaflow in Mailand ist ein ehemaliger BMW-Zulieferbetrieb, der 2009 wegen betrügerischer Insolvenz geschlossen wurde. Drei Jahre später wurden die Maschinen abtransportiert und Aktivist*innen besetzten das Gelände. Sie reparieren elektrische und elektronische Geräte, stellen Getränke her und bieten als „Offene Fabrik“ Kultur und politische Veranstaltungen an. Nach Einschüchterungen und Kriminalisierungsversuchen bekommen sie nun jedoch ein neues Gelände. Der monatelang inhaftierte Präsident der Kooperative wurde Mitte Februar 2019 unter Auflagen aus dem Gefängnis entlassen.

Barcelona (ES): In der Kooperative „Top Manta“ haben sich illegalisierte Straßenhändler*innen zusammengeschlossen und bedrucken T-Shirts, die sie im eigenen Laden verkaufen. Foto: Elisabeth Voß

In Süditalien werden Zitrusfrüchte monokulturell angebaut und vor allem afrikanische Migrant*innen unter sklavereiähnlichen Bedingungen ausgebeutet. Der Begriff Blutorangen bekam dort Anfang 2010 eine neue Bedeutung, nachdem ein Arbeiter mit Schussverletzungen ins Krankenhaus musste, daraufhin Hunderte wütende Migrant*innen demonstrierten und in einem rassistischen Pogrom von der Bevölkerung gejagt und angegriffen wurden. In der Kooperative SOS Rosarno produzieren Einheimische und Migrant*innen gemeinsam und selbstverwaltet. RiMaflow stellt aus ihren Zitronen den Likör Rimoncello her und hat gemeinsam mit SOS Rosarno das antikapitalistische Netzwerk FuoriMercato gegründet, in dem sich mittlerweile landesweit selbstverwaltete Betriebe und Projekte gegenseitig unterstützen. Auch die ursprünglich als Kommunikationsnetzwerk gegründete „antirassistische, antifaschistische und antisexistische Bewegung“ Genuino Clandestino baut nun alternative Wirtschaftsstrukturen auf.

Seit Ende der 1990 Jahre nehmen in Kalabrien kleine, von Abwanderung betroffene Dörfer wie Badolato, Riace oder Camini Geflüchtete auf. Gemeinsame Projekte von Einheimischen und Zugereisten versuchen, wenigstens ein bescheidenes wirtschaftliches Auskommen zu organisieren. Anfang Oktober 2018 ließ Innenminister Salvini von der regierenden Lega Nord den engagierten Bürgermeister von Riace, Domenico Lucano, verhaften und verbannte ihn aus seinem Dorf. Den solidarischen Projekten waren schon länger die Fördermittel gestrichen worden. Die neu gegründete Stiftung „È stato il vento“ (Es war der Wind), hervorgegangen aus dem Netzwerk solidarischer Kommunen Recosol, möchte nun die Weiterentwicklung dieser Projekte zu tragfähigeren ökonomischen Strukturen fördern.

Solidarisches Wirtschaften und Politik

Neben der wirtschaftliche Selbsthilfe kann Solidarische Ökonomie in einem weiteren Sinne auch als die Idee oder Forderung verstanden werden, die gesamte Wirtschaft an Bedürfnissen auszurichten statt an Profitmaximierung. Eine demokratisch organisierte Wirtschaft ginge weit über gewerkschaftliche Mitbestimmung hinaus. Sie berührt auch die Frage nach dem Verhältnis von solidarökonomischer Praxis und Politik. Früher war „Leben ohne Chef und Staat“ ein beliebter Slogan. Heute versuchen munizipalistische Bewegungen in Spanien und anderswo, auf lokaler Ebene entweder die Macht in den Rathäusern zu übernehmen, oder zumindest mit progressiven Regierungen korrespondierend Politik, und damit auch Wirtschaftspolitik zu gestalten. Das munizipalistische „Fearless Cities“-Netzwerk kam im Juni 2017 zur gleichnamigen Konferenz in Barcelona zusammen.

Eine Veränderung der Wirtschaft ist weder widerspruchfrei noch einfach. In Krisenzeiten haben einfache Welterklärungen Hochkonjunktur, aber es gibt weder einfache Ursachen und schon gar keine Ein-Punkt-Lösungen, weder für die Wirtschaft noch in anderen komplexen Feldern. Solange nur in Nischen anders gewirtschaftet wird, kümmert es kaum eine*n. Repression droht, wenn es an Fragen von Macht und Eigentum geht. Und sobald wirtschaftliche Alternativen Aufmerksamkeit und politische Unterstützung bekommen, ist kritische Wachsamkeit gegenüber denjenigen geboten, die dann versuchen, auf diesen Zug aufzuspringen. So wird regionales Wirtschaften gerne von Rechten mit Ideen von „Volk“ und „Heimat“ aufgeladen. Die „Green Economy“ möchte den Kapitalismus ein bisschen besser machen. Neoliberale Think Tanks versuchen mit ihren Kampfbegriffen „Soziale Innovation“ und „Impact“ auf die Politik einzuwirken um Privatisierungen und Deregulierungen zu erreichen.

Es ist nicht damit getan, einfach irgendwie anders zu wirtschaften, ein bisschen ökologischer, ein bisschen sozialer, vielleicht garniert mit ein wenig Demokratie. All dies ist nicht falsch, wenn es das Leben wirklich verbessert, aber ein bisschen ist nicht nur zu wenig, sondern ist etwas anderes. Selbstorganisation und Solidarität in der Wirtschaft bedeutet eine fundamentale Umwälzung kapitalistischer Wirtschaftslogiken, und braucht unabdingbar die Perspektive globaler Gerechtigkeit. Die Frage, wie ein gutes Leben für jede*n überall möglich sein kann – unabhängig von geografischer und sozialer Herkunft, Geschlecht, Leistungsfähigkeit etc. – ist eher ein Suchprozess als ein fertiges Konzept. Keine*r kann heute im Detail wissen, wie eine umfassende zukünftige Solidarische Ökonomie aussehen wird. Darum ist es wichtig, sich immer wieder als Suchende zu begreifen, und im gemeinsamen Gehen zu lernen.

Kooperation und solidarischer Direkthandel

In der selbstverwalteten Teefabrik Scop Ti fand 2014 das erste „Euromediterranean ‚Workers Economy‘ Meeting“ statt, 2016 folgte das nächste Treffen bei Vio.Me in Thessaloniki. Ein wichtiger Diskussionspunkt war die Gründung eines Netzwerks mit einem gemeinsamen Finanzierungsfonds und gemeinsamer europaweiter Vermarktung. Bis zum nächsten Treffen am zweiten Aprilwochenende 2019 bei Rimaflow sollen alle interessierten Belegschaftsbetriebe überlegt haben, ob und wie sie sich beteiligen möchten.

Thessaloniki (GR): Zum zweiten Euromediterranean „Worker‘s Economy“ Meeting in der besetzten Fabrik Vio.Me im Oktober 2016 kamen Kollektivist*innen aus aller Welt zusammen. Foto: Elisabeth Voß

Je nachdem, was die Betriebe produzieren, haben manche sich schon heute direkte Vertriebskanäle in ein solidarisches Umfeld aufgebaut. In Berlin gibt es seit dem Frühjahr 2018 ein Netzwerk von Solihandelsinitiativen, die beispielsweise Olivenöl von griechischen Kooperativen, Rotwein von einer italienischen Kommune und einer südspanischen Genossenschaft, Kaffee aus fairem Direkthandel, Orangen von einem Zusammenschluss sizilianischer Kleinbäuer*innen, sowie Produkte von Vio.Me und Scop Ti und vieles mehr vertreiben. Jedes Produkt erzählt eine Geschichte und steht für Widerstand und Solidarität.

Weltsozialforum Transformatorische Ökonomie 2020 in Barcelona

Auf dem vorletzten Weltsozialforum 2016 in Montreal wurden verschiedene thematische Foren verabredet. Für das Frühjahr 2020 ist ein „Weltsozialforum Transformatorische Ökonomie“ in Barcelona geplant. Es hat die Zielrichtung, eine Wirtschaft zu beenden, die auf Extraktivismus, Wachstum, Wettbewerb und marktwirtschaftlicher Konkurrenz basiert. Dafür soll die Vielfalt transformatorischer Ökonomien sichtbar gemacht werden. Das Weltsozialforum möchte dem herrschenden kapitalistischen Diskurs eine alternative Erzählung entgegensetzen.

Vom 5. bis 7. April 2019 sollen auf einer Vorbereitungskonferenz die Teilnehmenden aus aller Welt ihre Erfahrungen austauschen, um dann gemeinsame Herausforderungen zu diskutieren und die weitere Zusammenarbeit mit Blick auf das Sozialforum 2020 zu verabreden. Die vier Themenstränge für diesen Austausch sind:

  • Feministische Ökonomien und Gender-Perspektive
  • Agroökologische Bewegungen und Ernährungssouveränität
  • Commons (natürliche, städtische, digitale und wissensbasierte)
  • Soziale Solidarische Ökonomien (Fair Trade, Genossenschaftswesen, ethische Finanzierungen … )

Bisher angedachte Querschnittsthemen sind Mitgestaltung von Politik und öffentlichen Institutionen, sowie Bildung und Forschung.

Auf dem Sozialforum 2020 soll eine gemeinsame globale Agenda verabschiedet werden, um die verschiedenen solidarökonomischen Bewegungen zusammenwachsen zu lassen. Das Gelingen dieses globalen Prozesses wird sich daran entscheiden, wie sich lokale und regionale Netzwerke (weiter-) entwickeln, und ob auch auf Ebene der Länder solidarökonomische Netzwerke entstehen oder bereits bestehende sich beteiligen.

Weiterlesen:

Elisabeth Voß: Wegweiser Solidarische Ökonomie ¡Anders Wirtschaften ist möglich!, 2. aktualisierte und wesentlich erweiterte Auflage 2015, AG SPAK Bücher, Neu-Ulm.