Klimageflüchtete: Diskursive Apokalypse oder reales Schreckensszenario?
(Text von Olaf Bernau von Afrique Europe Interact aus 2019)
Lange galten Eisbären als das wahre Gesicht des Klimawandels. Doch spätestens seit dem im Jahr 2006 veröffentlichten Stern-Report zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der globalen Erwärmung wurde der Eisbär durch die Figur des „Klimageflüchteten“ abgelöst – dies allerdings auf reichlich fragwürdige Weise. Denn im Kern handelt es sich um einen alarmistisch aufgeladenen Diskurs, der darauf abstellt, die Dramatik des Klimawandels durch die drohende Dramatik millionenfacher Klimaflucht zu unterstreichen.
So hieß es 2009 in einer bekannten Studie der Columbia-University, dass das Ausmaß der klimawandelbedingten Migration „alles bisher Dagewesene übertreffen“ würde. Ähnlich das kirchliche Hilfswerk Brot für die Welt, das von einer Wanderungsbewegung raunte, „die ihresgleichen in der Geschichte“ suchte, die entsprechenden Zahlen seien „atemberaubend“. Oder eine im November 2018 unter dem Titel „Klimafluch und Klimaflucht“ ausgestrahlte arte-Doku, die wohl kaum zufällig mit der apokalyptisch anmutenden Behauptung eines belgischen Klima- und Migrationswissenschaftlers endete, wonach im Jahr 2050 zwei bis drei Milliarden Klimageflüchtete auf der Welt unterwegs seien.
Dieses Vorgehen mag zwar gut gemeint sein, ist jedoch in politischer und sachlicher Hinsicht wenig hilfreich (1). Denn es ist nicht erkennbar, inwiefern das medial intensiv ausgeschlachtete Szenario mehrerer hundert Millionen Klimageflüchteter ein prinzipielles klimapolitisches Umdenken in der Bevölkerung anstoßen könnte. Vielmehr steht zu befürchten, dass derartige Aussichten rechtspopulistische, auf Abschottung und Diskriminierung zielende Tendenzen verschärfen werden – so wie im Jahr 2015, als bereits eine Million Geflüchtete gereicht haben, den rasanten Aufstieg der AFD vom Zaun zu brechen.
Doch auch sachlich sind viele der in der öffentlichen Debatte ventilierten Aussagen zu Klimageflüchteten unzutreffend: Bereits die Zahlen werfen methodische Probleme auf. Denn es gibt bis heute keine einheitliche Definition, was unter Klimageflüchteten zu verstehen ist: Wie sind die ViehirtInnen zu zählen, die innerhalb eines Landes 100 Kilometer weiter nach Süden ziehen? Oder jene Haushalte, die 3 Monate nach einer Flutkatastrophe wieder zurückkehren können? Oder die zirkuläre Migration des ältesten Sohnes, der sich in der Trockenzeit zur Stabilisierung des familiären Haushaltseinkommens als Tagelöhner in der Hauptstadt verdingt?
Hinzu kommt, dass viele der am stärksten vom Klimawandel betroffenen Länder noch nicht einmal in Ansätzen über die statistischen Instrumente verfügen, um die allgemeine Mobilität der eigenen Bevölkerung zu vermessen. Vor diesem Hintergrund dürfte es kaum überraschen, dass die empirische Basis der meisten international bekannt gewordenen Studien zu Klimageflüchteten ausgesprochen schmal ist. Mehr noch: Viele stützen sich ausschließlich auf die Untersuchungen des bekannten britischen Umweltwissenschaftlers Norman Myers aus den 1990er Jahren: In diesen wurde herausgearbeitet, welche Teile der Welt zukünftig vom Klimawandel betroffen sein werden und wie viele Menschen dort leben. Sodann wurde geschlussfolgert, dass sich diese Weltgegenden früher oder später entvölkern würden. Ein offenkundig deterministischer Trugschluss – denn ignoriert wird der aus der Migrationsforschung hinlänglich bekannte Sachverhalt, dass sich Migrant*innen nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen zur Migration entscheiden, ungeachtet dessen, wie schwierig die äußeren Rahmenbedingungen auch sein mögen: Maßgeblich sind insbesondere die Verfügbarkeit der erforderlichen finanziellen Ressourcen, die Aussicht, am Zielort tatsächlich eine Arbeit zu finden und der Zugang zu jenen vor allem von älteren Migrant*innen zur Verfügung gestellten Informationen und Hilfestellungen, ohne die es kaum möglich wäre, von A nach B zu gelangen, vor allem dann, wenn es um grenzüberschreitende Migration geht (Stichwort: Migrationsnetzwerke).
Kurzum: Wer sich kritisch mit den öffentlich diskutierten Zahlen zu Klimageflüchteten auseinandersetzt – meist Werte zwischen 150 Millionen und 500 Millionen bis zum Jahr 2050 –, sieht sich rasch mit den konzeptuellen Bruchlinien, ja Widerspüchen des politisch-diskursiven Konstruktes „Klimageflüchtete“ konfrontiert. Vor allem drei Aspekte sind in den Blick zu nehmen:
Erstens: Ob es innerhalb einer vom Klimawandel betroffenen Region tatsächlich zu klimawandelgeprägter Flucht kommt, hängt stark von den jeweiligen Rahmenbedingungen ab: Dort, wo es nach Stürmen oder Überschwemmungen staatliche Wiederaufbauprogramme und individuelle Hilfen für einzelne Familien gibt, führen derartige Katastrophen meist nur zu kurzfristiger (Klima-)Flucht. Wo das allerdings nicht der Fall ist – weil die erforderlichen Mittel auf staatlicher Seite fehlen –, können klimawandelbedingte Katastrophen schnell zu langfristiger Abwanderung führen. Gleiches gilt für die Möglichkeit, kollektive Schutzmechanismen einzurichten – ob durch Dämme, Frühwarnsysteme (im Falle von Stürmen) oder Bewässerungsmöglichkeiten (im Falle von Dürren). Ganz ähnlich im individuellen Rahmen: Wenn bäuerliche Haushalte aufgrund von Verschuldung oder Martkverdrängung ohnehin mit dem Rücken zur Wand stehen, kann ein dürrebedingter Ernteausfall das prekäre Gleichgewicht endgültig zum Kippen bringen. Wenn die individuelle Lage der bäuerlichen Haushalte hingegen stabil ist (auch durch Migration einzelner Familienmitglieder), gibt es genug Möglichkeiten, eine solche klimawandelbedingte Krisensituation zu verkraften.
Zweitens: Zahlreiche Studien unter anderem in Mexiko, Äthiopien und Burkina Faso haben gezeigt, dass die am stärksten vom Klimawandel betroffenen Gruppen ausgerechnet jene sind, die ökonomisch und sozial am schwächsten aufgestellt sind. Und das mit einem paradoxen Effekt: Viele Menschen, die ihre Region eigentlich verlassen müssten (wie es in den oben zitierten Untersuchungen von Norman Meyers unterstellt wird), migrieren wegen mangelnder ökonomischer, sozialer und kultureller Ressourcen gar nicht oder allenfalls nahräumlich. In diesem Fall muss man also von verhinderten Klimageflüchteten sprechen – eine Dynamik, die erstmalig bei der großen (wie man heute weiß: klimawandelbedingten) Hungersnot 1983 bis 1985 im Sahel beobachtet wurde, als das Migrationsgeschehen in der Region vorübergehend zum Erliegen gekommen ist.
Drittens: Wie bereits angeklungen, lässt sich Klimaflucht nicht von anderen Flucht- bzw. Migrationsgründen trennscharf unterscheiden. Vielmehr muss von einem Bündel kumulativ wirkender Ursachen ausgegangen werden, das am Ende dazu führt, dass eine Familie bzw. einzelne Familienmitglieder in die Migration gehen. Was das konkret bedeutet, lässt sich am Beispiel der Tschadseeregion ablesen: Der Tschadsee hat zwischen 1963 und heute im Zuge des Klimawandels rund 90 Prozent seiner Wasseroberfläche eingebüßt, was die ohnehin bestehende Armut der Bauern und Bäuer*innen, Viehhirt*nnen und Fischer*nnen einmal mehr zugespitzt hat. Konsequenz war, dass die islamistische Terrorsekte Boko Haram zahlreiche junge Leute just in dieser Region rekrutieren konnte, mit der Konsequenz, dass 2,4 Millionen Menschen in der Tschadseeregion fliehen mussten. Sämtliche dieser Geflüchteten können als Bürgerkriegs-, Armuts-, und Klimageflüchtete bezeichnet werden. Nichts davon ist falsch, und doch ergibt sich nur in der Summe ein vollständiges Bild.
Es wäre ein Missverständnis, würde die kritische Auseinandersetzung mit der Figur des Klimageflüchteten als eine Relativierung bestehender Problemlagen verstanden werden. Denn es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der Klimawandel bereits heute ein wichtiger Faktor im Flucht- bzw. Migrationsgeschehen darstellt: Größere Teile der indonesischen Hauptstadt Jakarta mit 30 Millionen Einwohner*nnen sind regelmäßig Überschwemmungen ausgesetzt; in der Sahelzone hat sich die Ackerbauggrenze seit 1970 um 100 Kilometer weiter gen Süden verschoben (mit Tagestemperaturen von 60 Grad in der Sonne); an der senegalesischen oder ghanaischen Atlantikküste versinken ganze Dörfer im immer weiter vorrückenden Meer; und in Zentralamerika nimmt die Zahl und die Heftigkeit von Hurrikans beständig zu. Diese und viele andere schon heute existierenden Problemlagen dürften sich in den den nächsten Jahrzehnten kontinuierlich verschärfen, zumal das im Pariser Klimaabekommen anvisierte 1,5 Grad-Ziel mittlerweile in weite Ferne gerückt ist. Einziger Haken: Es wäre falsch, die hiermit verknüpften Migrationsprozesse auf Klimaflucht einzudampfen. Denn dies würde dazu führen, dass andere ebenfalls migrationsauslösende Faktoren wie neoliberale Freihandelsabkommen, IWF-Strukturanpassungsprogramme, korrupte Regierungseliten oder Ressourcenraub aus dem Blick geraten.
Womit sich die Frage der politischen Schlussfolgerungen stellt: Erstens sollte der Kampf gegen Fluchtursachen immer als facettenreiche Paketlösung verstanden werden, auch dort, wo der Klimawandel eine wichtige Rolle spielt. Zweitens gilt es, die Anpassung an den Klimawandel ungleich stärker in den Mittelpunkt zu rücken. Denn viele vom Klimawandel Betroffene können (und wollen) nicht ihre Herkunftsregion verlassen, vor allem nicht als vielköpfiger Haushalt. Stattdessen sollte mit agroökologischen Methoden wie Aufforstung, ökologischen Bewässerungssystemen etc. die gestressten Böden Entlastung erfahren – gleiches gilt für Dämme oder Sturmschutz. Drittens sind Migrant*innen zu unterstützen, nicht durch Hightech-Abschottung zu bekämpfen. Nur so können sie ihre Familien finanziell bei der Anpassung an die klimawandelbedingten Veränderungen helfen. Viertens sollte der Klimawandel in nationalen und internationalen Schutzkonventionen für Geflüchtete als wichtiger Faktor mitaufgenommen werden, vor allem um die für den Klimawandel hauptsächlich verantwortlichen Industrieländer in die Pflicht zu nehmen.
(1) Die Literatur zu Klimageflüchteten ist immens, zum Einstieg seien vor allem drei Publikationen empfohlen: Carsten Felgentreff/Martin Geiger (Hg.): Migration und Umwelt, IMIS-Beiträge, Heft 44/2013; Dina Ionesco, Daria Mokhnacheva und Fracois Gemenne: Atlas der Umweltmigration, München 2017; Cord Jakobeit, Klimawandel, Migration und Vertreibung. Die unterschätzte Katastrophe, 2017 (Greenpeace-Studie).
Der Autor: Olaf Bernau ist ehrenamtlicher Koordinator des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact, in diesem Zusammenhang hält er sich regelmäßig in Mali und anderen westafrikanischen Ländern auf.