Zur Bewältigung der Vielfachkrisen sind neue Wege not-wendig!
Elisabeth Voss
Wenn RWE Lützerath abbaggern darf, dann hat sich die Bundesregierung – allen voran die zuständigen Olivgrünen – endgültig von einer ernsthaften Klimapolitik und vom ohnehin unzureichenden 1,5 Grad-Ziel verabschiedet.
Der 2022 erschienene Bericht „Earth for All“ des Club of Rome scheint ungehört zu bleiben, so dass wohl das darin beschriebene Szenario „Zu wenig, zu spät“ eintreffen wird, mit noch mehr Ungleichheit, sozialen Spannungen und einem globalen Temperaturanstieg um weit mehr als zwei Grad, mit verheerenden Auswirkungen. Das andere Szenario, das die Menschheit vor dem Aussterben retten könnte, würde einen sofortigen „Riesensprung“ erfordern: Abschaffung von Armut und Ungleichheit, Ermächtigung von Frauen, Aufbau eines gesunden Nahrungsmittelsystems und Nutzung sauberer Energien. All dies ist nicht – und schon gar nicht in dem erforderlichen Umfang und der notwendigen Geschwindigkeit – in Sicht.
Die Klimakatastrophe ist nur eine von vielen Krisen, die eine weitere Existenz der Menschheit ernsthaft infrage stellen. Auf dem Weltnaturgipfel COP15 im Dezember 2022 verhandelten Vertreter*innen aus fast 200 Ländern über den Erhalt der Biodiversität. Diese Konferenzen finden regelmäßig statt, formulieren schöne Ziele, die jedoch nie erreicht werden. Durch die Ausbeutung und Verschmutzung der Natur schreitet das Artensterben immer schneller voran.
Die Bundesregierung bezeichnet die Ergebnisse des COP15 vollmundig als „Signal der Entschlossenheit“: „Bis 2030 sollen mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen unter Schutz gestellt und der Pestizideinsatz halbiert werden. Außerdem soll es mehr Geld für den Schutz der Artenvielfalt geben.“ Der Nabu kritisiert, es fehlten „konkrete Vereinbarungen zur Umsetzung und messbare Ziele“. NABU-Präsident Jörg-Andreas Krüger betont: „Die Welt rast in der Natur- und Klimakrise auf einen Abgrund zu. Doch statt entschieden zu bremsen, geht sie lediglich etwas vom Gas.“
Westlich dominierter Naturschutz vertreibt Indigene
Je nach Umsetzung und Interessenlage können die wohlklingenden Vorsätze auch das Gegenteil bewirken, wenn beispielsweise die Gelder in Greenwashing-Projekte fließen, oder wenn Indigene mit dem Argument des Naturschutzes vertrieben werden. Schon vor dem Gipfeltreffen hatten Amnesty International und andere NGOs an die Regierungen appelliert: „Ohne eine drastische Überarbeitung wird das sogenannte 30×30-Ziel das Leben indigener Völker zerstören, die Lebensgrundlagen anderer Subsistenz-Landnutzer*innen massiv beeinträchtigen, und gleichzeitig von den wahren Ursachen für den Zusammenbruch von Artenvielfalt und Klima ablenken.“ Solche Naturschutzgebiete stellten „den Eckpfeiler typischer, westlich dominierter Naturschutzbemühungen“ dar und hätten schon bisher „in vielen Teilen Afrikas und Asiens zu Vertreibungen, Hunger, Krankheiten und Menschenrechtsverletzungen, einschließlich Tötungen, Vergewaltigungen und Folter geführt.“ Um die Ökosysteme zu schützen, müssten die Rechte derjenigen geschützt werden, „die in ihnen leben und auf sie angewiesen sind“, denn 80 Prozent der gesamten biologischen Vielfalt der Erde komme „auf dem angestammten Land indigener Völker vor“. Deren Rechte auf Land und Selbstbestimmung seien zu schützen, so wie es „in internationalen Menschenrechtsübereinkommen festgeschrieben“ sei.
In einer Präsentation für den Deutschen Bundestag hatte der Weltbiodiversitätsrat IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) 2019 auf die „Beiträge indigener Völker und lokaler Gemeinschaften zur Verbesserung und zum Erhalt wilder und domestizierter Biodiversität und Landschaften“ hingewiesen und betont, dies sei auch ein „Angebot alternativer Konzepte der Mensch-Natur-Beziehungen“.
Diesem Aspekt fehlt bisher die notwendige Aufmerksamkeit, und er sollte meines Erachtens in den Klimakämpfen eine größere Rolle spielen. Die Einsicht, dass der Kapitalismus strukturellen Wachstumszwängen unterliegt, ist weit verbreitet. Aber allein daraus erklärt sich noch nicht die Gewalttätigkeit gegenüber Mensch und Natur, die der kapitalistischen Wirtschaftsweise kulturell eingeschrieben ist. Aus feministischer Perspektive ist eine andere Wirtschaft zwar notwendig, aber nicht hinreichend für eine Postwachstumsgesellschaft, denn patriarchale und koloniale Macht, Herrschaft und Gewalt sind älter als der Kapitalismus (siehe dazu den Beitrag der Autorin unter #PoWaKap).
Abschied nehmen von gewohnten Vorstellungen
Angesichts der vielfältigen Krisen und Katastrophen halte ich ein grundlegendes Umdenken und die Auseinandersetzung mit anderen Welt- und Menschenbildern für dringend not-wendig und gehe davon aus, dass indigene Weltsichten dafür sehr hilfreich sein können. Nicht um sie unkritisch zu übernehmen, aber um die eigenen eingefahrenen Denk- und Empfindungsmuster, ja auch die eigenen Vorurteile gegen ganz andere Perspektiven auf Mensch und Natur, und auf das Leben selbst, kritisch zu hinterfragen. Statt technologischer Scheinlösungen und patriarchalem Machbarkeitswahn braucht eine Transformation zu einem guten Leben für alle nach meiner Überzeugung vor allem Gewaltfreiheit und Respekt, ja Demut gegenüber den Geheimnissen des Lebens, und zuzugeben, dass „wir“ eben nicht alles wissen und machen können – was keineswegs bedeutet, nichts zu tun!
Allerdings ist es höchste Zeit, sich von der westlich dominierten Vorstellung von „Entwicklung“ zu verabschieden. Die Begrenztheiten im Weltverständnis vermeintlich aufgeklärter Naturwissenschaften – insbesondere der Physik und Biologie – hat der Philosoph und Künstler Fabian Scheidler in seinem Buch „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“ für mich sehr überzeugend dargelegt (Rezension der Autorin in der Graswurzelrevolution Oktober 2021).
Nach Wolfgang Sachs, der seit Jahrzehnten zu Fragen der Nachhaltigkeit forscht, ist Entwicklung „ein Plastikwort, ein leerer Begriff mit positiver Bedeutung“. Es gehe dabei um einen Fortschritt, mit dem die Armut weltweit bekämpft werden sollte – was zwar teilweise gelang, jedoch „mit noch größerer Ungleichheit und mit inzwischen irreparablen Umweltschäden erkauft“ wurde. In einleitenden Worten zu dem Buch Pluriverse – A Post-Development Dictionary“ (Pluriversum – Ein Post-Development Lexikon) führt er weiter aus, dass der Mythos der Entwicklung – ein Gedanke, der „von der Diktatur des quantitativen Vergleichs“ lebe – 2015 mit der Einführung der Globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) „formlos und noch dazu geräuschlos beerdigt“ wurde. Nun sei nicht mehr vom Aufholen die Rede, sondern es wurden universelle Ziele für die ganze Welt formuliert.
Ein Pluriversum
Die Ideen von Entwicklung sind noch lange nicht gänzlich verschwunden, vor allem stellt sich nun jedoch die Frage, was an ihre Stelle treten könnte. Ich misstraue grundsätzlich allen, die meinen, DIE eine Lösung und einzig mögliche Alternative zur kapitalistischen Wachstumswirtschaft gefunden zu haben. Postwachstum und Postdevelopment, das heißt die Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft ohne das auf Wachstum ausgerichtete Fortschritts- und Entwicklungsparadigma, kann ich mir nur als vielfältige Wege vorstellen, die nicht geradlinig und selbstgewiss, quasi-militärisch orchestriert verlaufen, sondern eher in spiralförmigen Suchbewegungen, fragend voran.
Darum hat mich das Pluriversum-Buch begeistert. Darin stellen mehr als 100 Autor*innen vielfältige wirtschaftliche, sozialpolitische, kulturelle und ökologische Konzepte, Weltanschauungen und Praktiken aus aller Welt vor. Post-Development zeigt Alternativen auf, die das Leben auf der Erde schützen und respektieren: Ein Pluriversum vieler möglicher Welten, das eine Vielzahl von Systemkritiken und Lebensweisen umfasst. Dieses Lexikon möchte die laufende Debatte über die sozial-ökologische Transformation re-politisieren, indem es ihre Vielschichtigkeit herausarbeitet. Das Buch ist all jenen gewidmet, „die sich für das Pluriversum einsetzen, die sich gegen Ungerechtigkeit wehren und Wege für ein Leben in Harmonie mit der Natur suchen“.
Die Idee für das Buch wurde auf der großen Degrowth-Konferenz 2014 in Leipzig erstmals von dem Wirtschaftswissenschaftler und ehemaligen ecuadorianischen Bergbauminister Alberto Acosta, dem Sozial- und Umweltwissenschaftler Federico Demaria und dem Gründer der indischen Umweltgruppe Kalpavriksh, Ashish Kothari, diskutiert. Später schlossen sich die ökofeministische Wissenschaftlerin und Aktivistin Ariel Salleh, und der emeritierte Professor für Anthropologie Arturo Escobar, dem Projekt an. Als Herausgeber*innen verstehen sie das Buch „als Einladung zur Erforschung dessen, was wir als beziehungsorientierte ‚Arten des Seins‘ betrachten“. Sie möchten die marxistische Analyse „durch Perspektiven wie Feminismus und Ökologie sowie durch Vorstellungen aus dem globalen Süden, einschließlich Gandhianischer Ideale“ ergänzen.
Die englische Erstausgabe erschien 2019 in Indien und wurde bereits auf Französisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch übersetzt, weitere Sprachen sollen folgen. Der AG SPAK-Verlag wird das Pluriversum-Buch noch in diesem Jahr auch für deutschsprachige Leser*innen zugänglich machen, online und als gedrucktes Buch. Die darin aufgeworfenen Fragen möchten wir gerne breit diskutieren, sicher auch hier im Postwachstumsblog.
Quelle: https://www.postwachstum.de/hat-die-menschheit-noch-eine-chance-20230117
Hinweis zur Transparenz: Die Autorin ist mit daran beteiligt, das Pluriversum-Buch auf deutsch herauszubringen.