Gutes Leben statt Erwerbslosigkeit und Armut

Erwerbslosigkeit und Armut sind Themen, die in Deutschland für eine breite Bevölkerungsschicht eine große Rolle spielen, da sie die existenzielle Grundlage jeder einzelnen Person berühren und ein selbstbestimmtes Leben einschränken bzw. verunmöglichen.

 

Seit den beiden Bundeskongressen von Erwerbslosen und SozialhilfebezieherInnen 1982 und 1988 ist ein reges Netzwerk von Betroffenengruppen entstanden, die sich sowohl beratungsmäßig gegen eine immer restriktiver werdende Sozialgesetzgebung einsetzen, als auch politisch nicht nur bestehende Sozialpolitik kritisieren, sondern auch Alternativen dagegen setzen. Dabei wird auf die Arbeit vor Ort gesetzt, weshalb es auch keinen Bundesverband gibt, sondern nur Netzwerke, die auch bundesweit agieren, mit unterschiedlicher inhaltlicher Schwerpunktsetzung. Dazu gehören die „Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen“ (KOS) und unabhängige Gruppierungen, die sich unter anderem in der „Bundesarbeitsgemeinschaft prekäre Lebenslagen“ (BAG PLESA) zusammenfinden. Obwohl es prinzipielle politische Unterschiede gibt, etwa über die Frage der Reformierbarkeit des Kapitalismus oder welche Bedeutung ein Recht auf Arbeit im Zusammenhang mit einem Recht auf Einkommen haben kann, ist es immer wieder möglich, auch gemeinsame Kampagnen durchzuführen, so mit dem Bündnis „AufRecht bestehen!“, der Beteiligung an einer landesweiten Demonstration 2018 „gegen Mietenwahnsinn“ in Hessen.

Natürlich gibt es in diesen sozialen Feldern noch eine Menge anderer Initiativen, die mit eigenen Ideen und Aktionsformen auftreten (Beispiele: „Die glücklichen Arbeitslosen“ oder die Aktivitäten der „Überflüssigen“). Oft ist der individuelle unorthodoxe Widerstand die einzige Möglichkeit, sich der Willkür des Sozialstaates gegenüber zu behaupten. Die allgemein gesellschaftliche und auch teilweise politische Ignoranz von Linken in Bezug auf die Lebenssituation (siehe Heitmeyer-Studie) und der daraus sich ergebenen Handlungsstrategien armer Menschen war oft ein Hemmschuh, gemeinsame Aktivitäten mit anderen sozialen Bewegungen zu organisieren. Trotz alledem hat die Erwerbslosenbewegung ein weitverzweigtes Netz von Treffpunkten und Zentren geschaffen, die auf sozialpolitische Verschlechterungen reagieren können, deren rechtliche Beratung mittlerweile viele Erfolge erzielt hat und die nicht nur Massendemonstrationen organisieren (100.000 in Berlin im November 2003) kann, sondern auch an vielfältigen Aktionen, etwa bei den Startbahnprotesten, den Blockupy Aktivitäten usw. beteiligt war. Und schließlich formulierten Erwerbslosengruppen das Konzept Existenzgeld, ein emanzipatorisches bedingungsloses Grundeinkommen, als gesellschaftliche Alternative zum bestehenden Kapitalismus.

Nach den erfolglosen Demonstrationen 2003/2004 gegen die Hartz-Gesetze, entwickelten sich auch innerhalb der Erwerbslosengruppen neue Ansätze für gemeinsame Kämpfe unterschiedlicher sozialer Gruppen. So bildete sich, initiiert von der „Arbeitslosenselbsthilfe Oldenburg“ (ALSO) ein Bündnis zwischen Erwerbslosengruppen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Sozialverbänden, sowie Bauern- und Umweltverbänden, die gemeinsam Forderungen für ein menschenwürdiges Existenzminimum formulierten. Damit wurde ein Beitrag zur Debatte über die Unzulänglichkeit der Höhe des aktuellen Regelsatzes angestoßen und Kriterien ausgearbeitet, diesen im Sinne der Betroffenen zu verändern.

Ergänzend erfolgte die Kontaktaufnahme zu Gruppen aus den Bereichen Nahrungsproduktion und Ökologie, da diese Arbeitsfelder als Ausgangspunkt neuer Bewegungen angesehen werden, die in den bisherigen sozialen Kämpfen armer Leute keine Rolle spielten, umgedreht der soziale Aspekt in der Praxis z.B. von ökologisch orientierten Gruppen praktisch nicht vorhanden war. Im solidarischen Kontakt mit Milchbauern, Naturschutzverbänden und ähnlichen Organisationen versucht z.B. die ALSO, neue Bündnismöglichkeiten mit einer erweiterten ökologischen Perspektive aufzubauen.
Innerhalb einiger Großstädte in Deutschland hat sich eine politische Basisarbeit etabliert, an der auch Erwerbslosengruppen beteiligt sind. Zum Teil unter Bezugnahme auf Organizing-Erfahrungen werden Anlaufpunkte organisiert, mit unterschiedlichen sozialen und politischen Angeboten und damit etliche, vorher getrennte politische Arbeitsfelder zusammen gebracht. Das Angebot reicht von Beratung für Erwerbslose, Migrantinnen etc. über die Unterstützung bei Wohnungsauseinandersetzungen bis zum Widerstand gegen faschistische und rassistische Aktivitäten bzw. gegen Polizeigewalt (racial profiling u.ä.) vor Ort.
Im besten Sinn kann so eine solidarische Haltung zwischen den beteiligten Menschen und Organisationen erreicht werden. Ziel ist die Erneuerung einer linken Kultur, nicht nur durch kurzfristige Mobilisierung, sondern im langfristigen Aufbau von Gegenmacht, verankert im Leben der Menschen im Stadtteil. Mit diesem Ansatz vieler „Solidarisch-Gruppen“ besteht die Möglichkeit, dass sich Menschen in soziale Konflikte einbringen, diese gestalten und eine gesellschaftliche Vision abseits tagespolitischer Zumutungen entwerfen können.

 

Innerhalb der BAG PLESA gibt es seit einigen Jahren einen Diskussionsprozess darüber, wie es gelingen kann, themenübergreifende Gemeinsamkeiten unterschiedlicher politische Gruppen zu finden. Die Forderung nach einem „guten Leben“ ist für uns maßgeblich. Damit ist nicht nur der materieller Aspekt gemeint, sondern auch die Frage: was benötige ich für ein gutes Leben, das ich mir nicht kaufen kann? 
Wir gehen davon aus, dass es in diesem Zusammenhang bei vielen verschiedenen politischen Bewegungen inhaltliche Gemeinsamkeiten gibt. Orientierungspunkte sind für uns die grundsätzliche Kritik an der Erwerbsarbeit, der Kampf für ein ausreichendes Einkommen, ohne Arbeitszwang und die Auseinandersetzung für eine möglichst kostenlose soziale Infrastruktur.

Als Beispiele seien genannt:
– der Kampf von MieterInnen um bezahlbaren Wohnraum umfasst den Widerstand gegen Mietsteigerungen, für ausreichenden Wohnraum und gegen willkürliche Kündigungen, hat aber auch ein Interesse an Einkommens- bzw. Sozialleistungssteigerungen. Zudem besteht ein Interesse an mieterfreundlicher, genossenschaftlich orientierter Rechtsauslegung.

– der Kampf von Erwerbslosen umfasst die existenzielle Absicherung mit Erwerbsarbeit, aber auch ohne Erwerbsarbeit gut leben zu können. Dazu gehört ebenso bezahlbarer und ausreichender Wohnraum, wie auch die Rechte auf Zugang zu möglichst kostenloser Benutzung von öffentlichen Verkehrsmittel, dem Gesundheits- und Bildungsbereich.

– der Kampf von MigrantInnen/Flüchtlingen umfasst ein allgemeines Bleiberecht, die Versorgung mit bezahlbarem, angemessenem Wohnraum und die ausreichende existenzielle Absicherung mit und ohne Erwerbsarbeit. Dazu gehört auch der freie Zugang zum Gesundheits- und Bildungsbereich.

– der Kampf von StudentInnen umfasst den freien Zugang zu allen Bildungseinrichtungen sowie selbstbestimmte Formen des Lernens. Dazu benötigt es eine umfassende existenzielle Absicherung.

Allen vier Gruppen fehlt es an einer umfassenden und ausreichenden existenziellen Absicherung ohne Gegenleistungen und dem freien Zugang zu sozialer Infrastruktur. Eine wesentliche Lockerung des Arbeitszwanges und eine öffentlich finanzierte Versorgung mit den wichtigsten Grundbedürfnissen könnten in einem deutlichen Gegensatz zu den Bedingungen von Markt und Staat stehen.

Und schließlich ergeben sich aus der Forderung nach einem „guten Leben“ weitere Diskussionsstränge: wie will ich Leben und Arbeiten, wie erreiche ich es möglichst preisgünstig aber dennoch gut zu wohnen, welche Arten von Wohnen möchte ich entwickeln, wie soll mein Stadtteil aussehen, welche Art von lokaler Gesundheitspolitik benötige ich, welche Angebote kostenloser oder zu geringen Gebühren verfügbaren öffentlichen Gütern sind notwendig, wie gelangen wir an gesellschaftlich erzeugten Reichtum und wie verwenden wir ihn?

Insoweit gehen Forderungen nach einer möglichst kostenfreie Infrastruktur und einem bedingungslosen Grundeinkommen genau in die Richtung der Zusammenfassung unterschiedlicher Kampfbereiche. 
Inhaltliche Knotenpunkte zur Debatte über ein gutes Leben finden sich national und international bei Buen Vivir, in der Degrowth-Bewegung, der Commons-Diskussion, dem Öko-Feminismus, den Auseinandersetzungen über Sorgearbeit, Ernährung und Landwirtschaft, Energie, Mobilität usw. Wir selbst arbeiten vor Ort in Recht-auf-Stadt-Initiativen und sind, wie auch tie-Global in Frankfurt am PrekärLab beteiligt.
Die Initiative „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ wird von uns unterstützt, weil sie von ähnlichen Fragestellungen ausgehen wie wir und gemeinsame Kämpfe das Ziel sind.

Kontakt: zentrum@falz.org

www.bag-plesa.de