Im Handgemenge globaler Widersprüche – Selbstbestimmte Entwicklung von unten
– von NoLager Bremen, aktiv bei Afrique-Europe-Interact (*)
1. Zur Einleitung
In der aktuellen Version des Manifests „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ ist gleich im zweiten Absatz von einem „übergreifenden Suchprozess für eine gemeinsame Perspektive“ die Rede. Wir teilen diese Zielsetzung, und dennoch scheint sie uns leichter formuliert als umgesetzt – jedenfalls nach allem, was wir in den letzten 10 Jahren im Rahmen des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact erlebt haben (und davor im Rahmen des ebenfalls heterogen bzw. gemischt zusammengesetzten NoLager-Netzwerks). Denn sobald man das eigene Bezugssystem verlässt (Stichwort „Bubble“) und sich in heterogen zusammengesetzten Gruppen oder Netzwerken bewegt, wird rasch deutlich, dass die jeweils Beteiligten ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was unter einem guten Leben zu verstehen sei. Und dabei spielen nicht nur die unterschiedlichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine zentrale Rolle, sondern auch politische und kulturelle Werte, ja Normen und Konventionen, so anrüchig letztere auch wirken mögen. Beispielsweise geht es einem Bauer im Sahel nicht zuletzt darum (um nur ein Beispiel aus unserer alltäglichen Arbeit zu nennen), zwei oder drei Hektar Ackerland bearbeiten zu können, einschließlich eines halbwegs erschwinglichen Zugangs zu Wasser, Saatgut und Dünger. Ob sich dieses Ansinnen tatsächlich realisieren lässt, hat in seinen Augen insbesondere mit der Gnade Gottes zu tun (bei aller weltlich ausgerichteten Kritik an den staatlichen Behörden). Sozial lebt besagter Sahel-Bauer mit zwei oder drei Frauen und zahlreichen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt, seine Töchter sind allesamt beschnitten (oder genital-verstümmelt – je nach Perspektive).
Versammlung der bäuerlichen Basisgewerkschaft COPON mit Afrique-Europe-Interact in Kourouma (Mali), Mai 2015
Mit diesem Beispiel geht es uns keineswegs darum, billige oder rassistische Vorurteile über vermeintlich rückständige Bauern und Bäuerinnen im Sahel zu schüren. Vielmehr haben wir eine Realität skizziert, wie wir sie bei den meisten unserer bäuerlichen Mitstreiter_innen erleben, mit denen wir vor allem in Mali gegen unterschiedliche Formen von Landraub kämpfen (in diesem Fall aus der männlichen Perspektive formuliert). Womit bereits ein weiteres wichtiges Schlagwort erwähnt wäre: Ja, wir diskutieren und kämpfen gemeinsam! Und das trotz zahlreicher, mehr oder weniger grundlegender Differenzen, ja Gegensätzen, die uns trennen, auch solcher, die ethische Grundüberzeugungen berühren, wie zum Beispiel die Frage der Beschneidung. Dabei sollte allerdings nicht aus dem Blick geraten, dass nicht nur wir, sondern auch unsere bäuerlichen Mitstreiter_innen in Mali immer wieder schlucken müssen. Etwa wenn sie merken, dass viele der europäischen Aktivist_innen gar keinen Gott bzw. Propheten haben, zu dem sie beten würden, oder dass alte Menschen in unserem Wertesystem keineswegs automatisch Respektpersonen sind, deren Meinung schwerer wiegt als die von jungen Leuten (weshalb es durchaus hilfreich ist, dass wir selber nicht mehr die allerjüngsten sind).
Soweit einige erste Impressionen zum Einstieg, womit wir vor allem einen Eindruck davon vermitteln wollten, in welche Gefilde man zwangsläufig gerät, wenn die Frage nach gemeinsamen Perspektiven in einem globalen Rahmen diskutiert wird – das heißt unter ausdrücklicher Bezugnahme auf unterschiedliche Realitäten weltweit. Entsprechend möchten wir nun in einem zweiten Schritt etwas genauer skizzieren, mit welchen Problemen, Herausforderungen und Widersprüchen wir im Rahmen unserer transnationalen Arbeit bei Afrique-Europe-Interact (AEI) immer wieder konfrontiert sind. Um dies jedoch besser verständlich zu machen, sei zunächst mit einigen Stichworten geschildert, was es mit AEI auf sich hat:
2. Wer ist Afrique-Europe-Interact?
AEI ist ein kleines, transnational organisiertes Netzwerk, das Anfang 2010 gegründet wurde. Beteiligt sind Basisaktivist_innen vor allem in Mali, Togo, Burkina Faso, Guinea, Tunesien, Marokko, Deutschland, Österreich und den Niederlanden – unter ihnen zahlreiche Geflüchtete, Migrant_innen und Abgeschobene. Politisch verfolgt AEI eine doppelte Programmatik: Einerseits verteidigen wir die Rechte von Geflüchteten und Migrant_innen, was nicht nur bedeutet, die repressive, mitunter sogar tödliche Abschottungspolitik der EU öffentlichkeitswirksam zu kritisieren, sondern auch Migrant_innen praktisch-solidarisch zu unterstützen. Andererseits arbeiten wir zusammen mit Betroffenen – insbesondere bäuerlichen Communities – gegen Landgrabbing und innerstädtische Vertreibungen. Diese zweite Zielsetzung steht im Kontext unseres grundsätzlichen Anspruchs, die strukturellen Hintergründe von Flucht und Migration und somit die Forderung nach gerechter bzw. selbstbestimmter Entwicklung zum Thema zu machen. Verknüpft sind beide Schwerpunkte durch die Devise: „Für das Recht zu bleiben und das Recht zu gehen“, auf dieser Basis hat sich die Arbeit von AEI in den letzten 9 Jahren immer stärker aufgefächert:
- In Mali unterstützen wir mehrere Dörfer, nicht zuletzt in ihrem Kampf gegen Landgrabbing – erwähnt sei in diesem Zusammenhang auch die aus AEI hervorgegangene Basisgewerkschaft COPON (Koordination der Bauern im Office du Niger) mit inzwischen über 500 Mitgliedern. Außerdem spielen Migration sowie die gesellschaftliche Krise im Norden des Landes eine wichtige Rolle (so hat AEI 2013 zwei große Versöhnungsveranstaltungen in Bamako durchgeführt, jeweils unter Beteiligung von Vertreter_innen der unterschiedlichen ethnischen Communities im Norden Malis).
- In Burkina Faso hat AEI den Sturz des langjährigen Diktators Blaise Campoaré und den anschließenden Transformationsprozess (Oktober 2014 bis November 2015) solidarisch begleitet, woraus unter anderem ein 90-minütiger Dokumentarfilm hervorgegangen ist (eine Ko-produktion von AEI-Aktivist_innen aus Ouagadougou und Wien). In diesem Zusammenhang hat sich in Burkina Faso auch eine eigenständige Sektion von AEI herausgebildet, die schwerpunktmäßig gegen innerstädtische Vertreibungen aktiv ist.
- In Togo, Tunesien und Marokko unterstützt AEI Geflüchtete, Migrant_innen, Abgeschobene und ihre Familien in ihren Kämpfen um Rechte. Neben diversen politischen Aktivitäten gehört hierzu auch ein von AEI gegründetes Rasthaus für Migrantinnen und ihre Kinder in der marokkanischen Hauptstadt Rabat, wo die Frauen bis maximal drei Monate bleiben können.
- 2014 war AEI an der Gründung des „Watch The Med Alarm Phone“ beteiligt, einer Notrufnummer für Geflüchtete in Seenot. In diesem Sinne baut AEI zusammen mit zahlreichen weiteren Gruppen in West- und Nordafrika seit Januar 2017 ein Alarmphone Sahara auf, das Migrant_innen und Geflüchtete ebenfalls unterstützen soll – entsprechend gibt es seit Juli 2018 ein erstes Info-Büro in Agadez in Niger.
- In Guinea ist AEI durch das panafrikanische Künstler_innenkollektiv Faso Kele vertreten, das seit Anfang 2016 mit Unterstützung des Netzwerks ein ökologisches Künstler_innendorf aufbaut.
- Darüber hinaus ist AEI zu sämtlichen dieser Themen auch in Europa aktiv, teils mit Aktionen (insbesondere zur europäischen Migrationspolitik und zu Landgrabbing), teils mit Konferenzen, Veranstaltungen oder Buchveröffentlichungen.
Schließlich: Die Arbeit von AEI findet überwiegend ehrenamtlich statt, die Finanzierung erfolgt über private Spenden, Anträge bei Stiftungen und Eigenbeteiligung der einzelnen Aktivist_innen (sofern das möglich ist). Sämtliche unserer Aktivitäten sind auf der Webseite www.afrique-europe-interact.net dokumentiert.
Demonstration der Bewohner_innen der malischen Dörfer Sanamadougou und Sahou gegen Landgrabbing, Juni 2016
3. Mit welchen gesellschaftlichen Problemlagen ist Afrique-Europe-Interact konfrontiert
Grundsätzlich dürften die meisten Aktivist_innen im globalen Norden das krasse Ressourcen- bzw. Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd auf dem Schirm haben. Gleichwohl spielt dieses Wissen im politischen Alltag für die meisten kaum eine Rolle – ganz gleich, ob es um Hunger, unfaire Handelsverträge oder Ressourcenplünderung geht. Denn die kritische Auseinandersetzung mit so genannten Nord-Süd-Themen – und somit auch Fluchtursachen – wird seit dem Kollaps der Internationalismusbewegung Anfang der 1990er Jahre meist an NGO, Kirchen oder spezialisierte (Expert_innen-)Netzwerke delegiert. Umso wichtiger ist es, sich vor Augen zu führen, was in vielen Ländern des globalen Südens tatsächlich passiert – dies auch deshalb, weil hieraus eine Vielzahl an Forderungen resultiert, die in Europa entweder gar nicht oder nur in abgemilderter Form existieren (zur Vermeidung von Missverständnissen sei noch darauf hingewiesen, dass wir zwar von Ländern des globalen Südens sprechen, dass wir uns aber primär auf jene Länder in Westafrika beziehen, in denen AEI schwerpunktmäßig aktiv ist). Jetzt aber zu einigen der Problemlagen, mit denen wir in Mali, Guinea oder Burkina Faso zu tun haben:
- Weitgehender Mangel an (sozialer) Infrastruktur (Gesundheitsversorgung, Bildungssystem, Strom, sauberes Trinkwasser, Abwasser, Gebäudebestand etc.).
- Fehlende Arbeitsmöglichkeiten in quasi allen gesellschaftlichen Sektoren – auch im Agrarbereich, in dem viele Bauern und Bäuerinnen kein Auskommen mehr finden, unter anderem deshalb, weil kleinbäuerliche Landwirtschaft immer stärker durch Agrobusiness und Klimawandel unter Druck gerät.
- Grundlegender Mangel an Sicherheit – sei es, weil die zivile Bevölkerung vor bewaffneten Gruppen nicht geschützt wird (islamistischer Dschihadismus, Jugendbanden etc.), sei es, weil staatliche Sicherheitskräfte selber gewalttätig gegen die Bevölkerung vorgehen.
- Hochgradig korrupte Staatlichkeit (Verwaltung, Justiz, Regierung, Steuerwesen etc.).
- Fehlende demokratische Beteiligungsmöglichkeiten – beispielsweise, indem Regierungen und öffentliche Verwaltungen Kolonialsprachen verwenden, obwohl große Teile der Bevölkerung die jeweiligen Kolonialsprachen nicht sprechen.
- Wachsende Repression gegen Migrant_innen – sei es durch erschwerte Möglichkeiten, bestimmte Migrationsrouten zu nehmen, sei es durch steigende Kooperationsbereitschaft afrikanischer Regierungen, bei Abschiebungen aus Europa mitzuwirken.
Es dürfte sich von selbst verstehen, dass diese Liste keineswegs vollständig ist. Dennoch dürfte deutlich werden, dass die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben möchten, grundsätzliche Entwicklungsfragen aufwirft, welche ihrerseits wiederum immer nur im Gesamtpaket, d.h. in einer Crossover-Perspektive diskutiert werden können. Konkreter: Wer den Mangel an sozialer Infrastruktur verstehen möchte, kann sich nicht nur mit dem Mangel selbst beschäftigen (etwa mit einem nicht-existierenden Gesundheitswesen). Vielmehr müssen auch die Gründe ausgeleuchtet werden, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Und wo dies passiert, muss man über ganz unterschiedliche Phänomene reden: über das langlebige Erbe des Kolonialismus, über die Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit während des Kalten Krieges, über globale Wertschöpfungsketten, über die Auswirkungen jahrzehntelanger Strukturanpassungsprogramme von IWF und Weltbank, über westliche Rohstoff(beschaffungs)politik, über korrupte politische Klassen, über gestürzte bzw. ermordete demokratische Hoffnungsträger wie Patrice Lumumba (Demokratische Republik Kongo) oder Thomas Sankara (Burkina Faso), dies in aller Regel mit westlicher Hilfe, und über viele andere vergangene und gegenwärtige Entwicklungsblockaden mehr.
Ein weiteres Beispiel betrifft die hierzulande viel diskutierte Figur des “Klimaflüchtlings”: Zahlreiche Studien zeigen, dass gerade Klimageflüchtete vorwiegend nahräumlich Schutz suchen (und nicht als millionenfache Massenbewegung bis nach Europa kommen), allein deshalb, weil sie nicht die nötigen Geldmittel haben, um weiter weg zu gehen. Zudem haben andere Untersuchungen ergeben, dass Zerstörungen im Zuge von klimawandelbedingten Hurrikans oder Überschwemmungen immer dann nicht zu verstärkter Migration führen, wenn es umfangreiche Wiederaufbauhilfen gibt. Statt Fokussierung auf Einzelursachen sollte also gefragt werden, weshalb relevante Teile der Weltbevölkerung derart arm sind, dass sie dem Klimawandel mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert sind. Denn dann würde sich rasch abzeichnen, dass die Menschen von vielfältigen Rahmenbedingungen in Mitleidenschaft gezogen werden – und somit nicht nur Klima-, sondern auch WTO-, Rohstoff- oder IWF-Geflüchtete sind.
Spätestens vor diesem Hintergrund dürfte aber auch verständlich werden, inwiefern Entwicklungsfragen im Süden immer auch Entwicklungsfragen im Norden aufwerfen. Denn die Entwicklung im Süden ist auch ein Ergebnis der Entwicklung im Norden („Kein Reichtum ohne Armut, keine Teilhabe ohne Ausgrenzung, kein Wachstum ohne Zerstörung, kein Frieden ohne Krieg, keine Macht ohne Unterdrückung“ – wie es im Manifest heißt). Soll sich also im Süden etwas ändern, kann der Süden nicht einfach dem Norden nacheifern. Vielmehr müssen beide Seiten völlig andere Entwicklungspfade einschlagen, vor allem müssen die Ressourcenströme zwischen Nord und Süd umgedreht werden (Stichwort: #fairteilen) – und das nicht nur aus Gerechtigkeitsgründen (damit alle Menschen ein würdiges und selbstbestimmtes Leben führen können), sondern auch mit Blick auf den Klimawandel, der ein Ende der „imperialen Lebensweise“ (Ulrich Brand/Markus Wissen) erfordert, egal wo.
Pressekonferenz gegen Landgrabbing in Tikerre-Moussa (Mali), Februar 2016
4. Widersprüche
Einige Widersprüche mit Blick auf das gute Leben haben wir eingangs schon angesprochen, sie betreffen unter anderem geschlechterpolitische Fragen, Glaubensfragen (in welchem Sinne kann Religion in emanzipatorischen gesellschaftlichen Veränderungsprozessen eine positive bzw. tragende Rolle spielen?), oder Fragen danach, wie Demokratie von unten ausbuchstabiert werden sollte (wie sind Institutionen wie ein männlich besetzter „Ältestenrat“ oder ein „Dorfchef“ einzuschätzen, gehören sie abgeschafft oder lassen sie sich mit europäischen Vorstellungen von Basisdemokratie wie dem Plenum oder Konsensprinzip verbinden – womöglich auch einfacher, als es auf den ersten Blick erscheinen mag?). Und diese Fragen sind keineswegs nur Fragen zwischen südlichen und nördlichen Aktivist_innen. Auch in Westafrika werden solche Fragen kontrovers diskutiert, auch dort gibt es zum Beispiel Feminist_innen, die männliche Dominanz, Gewalt oder Beschneidung kritisieren, auch wenn sie oftmals zu anderen Einschätzungen, Forderungen oder Visionen gelangen, als es etwa im zeitgenössischen Queerfeminismus in Westeuropa der Fall ist (dem wir uns eher verbunden fühlen, d.h. die Autor_innen dieses Textes). Doch die genannten Beispiele sind nur eine kleine Auswahl, es gibt auch viele andere Fragen, die strittig sind, sobald man sich näher auf entsprechende Debatten einlässt – zwei, drei Beispiele mögen das illustrieren:
- Linke in Europa stehen Polizei, Armee und Geheimdiensten – kurz dem staatlichen Gewalt- bzw. (Un-)Sicherheitsapparat – in aller Regel kritisch bzw. ablehnend gegenüber. Ganz anders in einem Land wie Mali: Dort erleben die Menschen in vielen Landesteilen täglich, was es heißt, Attacken durch Dschihadisten ausgesetzt zu sein, ohne dass es eine Notrufnummer 110 gäbe, mit der binnen weniger Minuten umfangreiche Spezialkräfte zur Hilfe gerufen werden könnten, die dem Morden Einhalt gebieten würden (wie zum Beispiel in Paris bei den Terroranschlägen am 13. September 2015, als die Terroristen wahrscheinlich weiter in Cafés, Clubs etc. getötet hätten, wären sie nicht durch die Polizei gestoppt worden). Und das wiederum ist der Grund, weshalb es so gut wie keine Bewegungsaktivist_innen in Nord-, West, Zentral- oder Ostafrika gibt, die nicht die Schaffung eines gut ausgestatteten, gut trainierten, nicht-korrupten und demokratisch-transparenten Sicherheitsapparates fordern würden. Denn auch wenn argumentiert wird, dass die Terroristen nur die Brut westlich-imperialer Politik seien (was wir durchaus glauben) und dass es deshalb in einer zukünftigen Gesellschaft keine Sicherheitsapparate mehr geben wird, wie wir sie heute kennen, ein simpler Sachverhalt bleibt bestehen: Nämlich der Umstand, dass es derzeit Terrorismus gibt und dass dieser das alltägliche Leben von Millionen Menschen extrem erschwert, und das wiederum mit der Konsequenz, dass unter solchen Vorzeichen die Frage des staatlichen Gewaltmonopols völlig anders diskutiert wird als hierzulande (hierzulande stellt sich die Frage vor allem, wenn es um Angriffe von Nazis, um Vergewaltigungen und ähnliche Gewalt- oder Hassverbrechen geht).
- Ein weiteres Feld für grundlegende Widersprüche macht sich am Thema der Migration fest: So wird nicht nur hier, sondern auch in den Herkunftsländern von Migrant_innen immer wieder über die Frage diskutiert, ob die jungen Leute tatsächlich gehen oder nicht lieber bleiben sollten, um vor Ort für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zu kämpfen (auch wenn das Recht zur Migration in aller Regel nicht in Frage gestellt wird – auch, weil es sich um eine innerfamiliäre Überlebensstrategie handelt). Eine weitere Debatte betrifft in diesem Zusammenhang die weiter oben schon angeschnittene Frage danach, was Entwicklung überhaupt ist. Nicht wenige Migrant_innen, mit denen wir im Rahmen von Afrique-Europe-Interact zu tun haben (nicht unbedingt der „inner circle“, aber die, die wir bei unseren Aktionen mobilisieren), orientieren sich als Ideal an vergleichsweise konventionellen Standards, also dem, was wir als imperiale Lebensweise beschrieben haben. Ihre Rücküberweisungen an ihre Familien werden zwar in aller Regel für existenzsichernde Bedürfnisse ausgegeben (Schule, Gesundheit, Wohnen, Nahrung…), doch de facto spielen Statussymbole wie Autos etc. eine durchaus wichtige Rolle (auch wenn man hinzufügen sollte, dass der viel zitierte ökologische Fußabdruck von vielen europäischen Aktivist_innen – auch solchen aus der Klimabewegung – ungleich größer sein dürfte, als der von Migrant_innen, die womöglich keine klimabewegungskompatiblen Überzeugungen zum Besten geben).
- Schließlich seien (der Vollständigkeit halber) die Debatten erwähnt, wie sie schon seit längerem von Sahra Wagenknecht & Co ausgehen (jetzt auch im Rahmen ihrer so genannten Sammlungsbewegung). Denn auch wenn das Recht zur Migration für Afrique-Europe-Interact unverhandelbar ist, verweist die Debatte auf die Notwendigkeit, die verschiedenen Fragen zusammenzudenken. Konkreter: Nicht neu ankommende Migrant_innen spitzen die Lage auf dem Wohnungsmarkt zu, sondern die Konsequenzen einer neoliberalen (und de facto gescheiterten) Wohnungspolitik. Ähnliches gilt für den Arbeitsmarkt und Fragen von Leiharbeit oder Mindestlohn: Nicht Migrant_innen stärken diese Tendenzen, vielmehr sind es die Hartz-Gesetze gewesen, die diesbezüglich Tür und Tor geöffnet haben. Diese und weitere Argumente sind in die Debatte zu bringen (inklusive einer ernsthaften Thematisierung von Fluchtursachen, worauf politisch die Priorität liegen sollte), doch dies geht nur, wenn die entsprechenden Bewegungen zusammenarbeiten, wie es ja in der vorliegenden Initiative „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ sein soll.
- Demo vor nigrischer Botschaft in Berlin, November 2016
5. Hat Afrique-Europe-Interact bereits in Crossover-Konstellationen gearbeitet?
Ja, in gewisser Weise arbeiten wir ständig in solchen Konstellationen, ansonsten würden wir mit unseren Anliegen keinen Fuß auf den Boden kriegen:
- Als Afrique-Europe-Interact begreifen wir uns als Teil der Klimagerechtigkeitsbewegung, außerdem haben wir mit Leuten aus der Degrowth-Bewegung (namentlich dem Konzeptwerk Neue Ökonomie) im Oktober 2017 in Leipzig die Konferenz „Selbstbestimmt & solidarisch. Entwicklung, Migration, ökologische Krise“ organisiert – und dies allein deshalb, weil der Klimawandel in Westafrika mit am stärksten zuschlägt (und zwar nicht nur objektiv als Klimawandel, sondern auch deshalb, weil dort die wenigsten Ressourcen verfügbar sind, um sich gegen den Klimawandel zu schützen).
- Wir haben in Deutschland schon mehrfach gegen Landgrabbing in Mali demonstriert (entlang ganz konkreter Fälle) – dies auch zusammen mit Leuten aus der Bewegung für eine andere, d.h. ökologische Landwirtschaft.
- Beim G20-Gipfel in Hamburg haben wir unter anderem mit attac eine kleine Demonstration gegen die Economic Partnerschip Agreements (EPA) organisiert, Freihandelsabkommen, die die EU unter anderem den afrikanischen Ländern aufzwingen möchte.
- Und wenn es um Migration geht, sind wir als Netzwerk natürlich immer auch mit Gruppen aus der antirassistischen Szenerie unterwegs, auch wenn uns bei diesen oft der weitergehende Bezug auf die Herkunftsländer – und somit Fluchtursachen – fehlt.
Abschließend: Die Konzentration auf das jeweils eigene Themenfeld ist durchaus verständlich – weil natürlich oftmals die Ressourcen fehlen, sich in ganz verschiedene Themenfelder reinzudenken. Insofern möchten wir auch bezüglich AEI betonen, dass nicht alle Mitglieder in unserem Netzwerk alles machen. Und doch dürfen wir durchaus behaupten (das ist auch an den Tagesordnungen unserer Treffen ablesbar…), dass wir zumindest versuchen, die verschiedenen Fragen immer wieder zusammenzudenken. Das führt zwar regelmäßig zur Überforderung, bisweilen geht es auch auf Kosten der (politischen) Qualität oder der jeweiligen Kontinuität, trotzdem scheint uns ein derartiges Herangehen buchstäblich alternativlos. Denn Fakt ist – und das ist auch der Grund, weshalb wir AEI vorschlagen werden, sich stärker an diesem Prozess zu beteiligen –, dass wir langfristig nur einen Fuß auf den Boden kriegen werden (im Sinne von realen Veränderungen), wenn wir uns den Herausforderungen von Crossover-Bündnissen stellen und somit auch die Verankerung unserer jeweiligen Themen in der gesamtgesellschaftlichen Linken stärken werden.
Kontakt: nolagerbremen@yahoo.de
www.afrique-europe-interact.net
(*) NoLager Bremen ist 2001 im Zuge der Antirassistischen Grenzcamps entstanden, auch wenn der Gruppenname aus der Zeit des erst danach entstandenen Nolager-Netzwerks stammt (2002-2007). Unsere Gruppe ist in der Stadtkommune Alla Hopp in Bremen verankert, seit 2010 sind wir für die Koordinierung des transnationalen Netzwerks Afrique-Europe-Interact zuständig.