Ernährungssouveränität

Ernährungssouveränität als Basis gesellschaftlichen Wandels

Das Gute Leben ist eng verknüpft mit dem Guten Essen. Dabei spielt sowohl die eigene Gesundheit eine Rolle als auch eine planetenverträgliche Erzeugung unserer Lebensmittel. Seit der Industrialisierung des Ernährungssystems und dem Einzug der Globalisierung in den Lebensmittelsektor gibt es viele umweltschädliche und menschenfeindliche Entwicklungen, von Überdüngung und Pestizid-Einsatz bis zu Machtkonzentration und Entfremdung von Erzeuger*innen und Konsument*innen. Immer mehr Menschen machen sich wieder stärker Gedanken um ihr Essen und wollen das Ernährungssystem auf demokratische Weise mitgestalten, in ganz unterschiedlichem Umfang und Ausrichtung. Einerseits wollen sie dem gegenüber, was Teil ihres Körpers wird, nicht mehr gleichgültig sein. Andererseits möchten sie die negativen Auswirkungen des Ernährungssystems reduzieren und Lebensmitteln mit mehr Respekt vor Mensch, Tier und Natur erzeugen.

Das Konzept Ernährungssouveränität wurde erstmals in den 90er Jahren von La Via Campesina, der weltweiten Bewegung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, als politisches Gegenkonzept zur neoliberalen Reduzierung der Ernährungsfrage auf Ernährungssicherheit vorgestellt. Nicht nur die ausreichende Menge an Kalorien spielt eine Rolle, sondern auch die politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Dimensionen des Essens.
Mittlerweile existiert eine weltweite Bewegung für Ernährungssouveränität, die ihren Ursprung im globalen Süden hat. Bei einem ersten internationalen und Akteur*innen-Gruppen-übergreifenden Treffen zu Ernährungssouveränität 2007 in Mali wählten die Delegierten den Namen „Nyéléni“ für die Bewegung. Nyéléni ist der Name einer legendären Malischen Bäuerin, die dem Patriarchat ihrer Zeit getrotzt und ihrer Familie und ihrem Dorf eine gute Lebensmittelversorgung ermöglichte. Bei dem Treffen wurde schnell klar, dass es weltweit nur dann Ernährungssouveränität geben kann, wenn die negativen Auswirkungen des westlichen Landwirtschafts- und Ernährungssystems auf andere Weltregionen gestoppt werden. Daher fanden in den folgenden Jahren europaweite Nyéléni-Treffen statt, 2011 in Österreich und 2016 in Rumänien.

Wer ist Nyeleni.de?
Nyeleni.de setzt sich ein für die Thematisierung von Ernährungssouveränität auch im deutschsprachigen Raum, sensibilisiert dafür und führt eine lebendige Auseinandersetzung darüber, was Ernährungssouveränität für uns bedeutet. Die Deklarationen, die von den Delegierten 2007 in Mali sowie 2011 in Österreich formuliert wurden, sind die Basis für die Planung und Durchführung von konkreten Handlungen, Aktionen und Kampagnen. Wir sind ein bunter Haufen von Bäuer*innen, Gärtner*innen, Imker*innen, Verbraucher*innen, Food-Saver*innen, Verarbeiter*innen, Gastronom*innen, zivilgesellschaftlich Organisierte, Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und viele mehr – junge und alte Nyéléni-Aktive. Wir setzen uns für eine selbstbestimmte, ökologisch zukunftsfähige und sozial gerechte Landwirtschaft sowie für gutes Essen für alle ein. Es geht uns um die Demokratisierung unseres Ernährungssystems. Wir wollen die Gestaltung unseres Lebensmittel- und Agrarsystems wieder selbst in die Hand nehmen – auf Basis einer solidarischen Verbindung von Menschen auf dem Land und in den Städten.

Es geht nicht nur darum, ob die Zwiebel satt macht.
Ernährungssouveränität bedeutet auch kritische (System-)fragen zu stellen

Wir setzen dabei auf das ganzheitliche Konzept von Agrarökologie als einen Weg, um Ernährungssouveränität zu erreichen. Wesentliche Elemente dabei sind zum Einen eine systematische Integration von Biodiversität im Anbausystem, die Humusaufbau fördert und Bodendegradierung verhindert, Agrarökosysteme mit hoher Selbstregulierungsfähigkeit und mehr Resilienz und Anpassung (z.B. an die Klimakrise), mehr Kontrolle über die Lebensgrundlagen wie Land, Saatgut, Wasser, Artenvielfalt und Wissen. Zum Anderen geht es auch um die Stärkung und den Erhalt bäuerlicher Betriebe und handwerklicher Weiterverarbeitungsbetriebe sowie regionaler Vermarktungsnetzwerke, die gesunde Ernährung und lokale Versorgung stärken und weniger Abhängigkeit und mehr Autonomie fördern. Voraussetzung ist die Gleichberechtigung von Frauen* und Männern* in der Landwirtschaft und im gesamten Ernährungssektor, mehr Beteiligung und Mitsprache in der Gestaltung der Agrar-und Ernährungssystem sowie förderliche Politiken und partizipative Forschung mit Züchter*innen, Bauern und Bäuerinnen sowie von handwerklichen Lebensmittelhersteller*innen. Auch die Gefühlsebene, die bäuerliche Empfindung, ist ein unentbehrlicher Teil der Agrarökologie. Sie basiert auf Bewusstsein, Liebe und Respekt für die Erde, Gemeingut, Natur und alle Formen des Lebens.

Viele Organisationen und Initiativen wie Foodsharing, Saatguttausch und Ernährungsräte oder Aktionsformen wie die Regio-Challenge oder die Ackerbesetzung Neu-Eichenberg setzen sich für Ernährungssouveränität ein. Ein weiteres gutes Beispiel für gelebte Ernährungssouveränität ist die Solidarische Landwirtschaft (Solawi). In Deutschland gibt es bereits über 200 Solawi-Betriebe, großteils organisiert im Netzwerk Solidarische Landwirtschaft. Die Idee ist, dass Lebensmittel nicht mehr über den oft anonymen Markt vertrieben werden und stattdessen durch einen eigenen, durchschaubaren Wirtschaftskreislauf fließen, der von den Verbraucher*innen mit organisiert und finanziert wird. Die Mitglieder zahlen also nicht das Kilo Möhren, sondern teilen sich erst das Budget und schließlich die Ernte. Die Lebensmittel verlieren ihren Preis und gewinnen dabei ihren Wert zurück. Die Erzeuger*innen werden unabhängig von Subventionen und Markt- bzw. Weltmarktpreisen und haben dadurch auch eine höhere Arbeitsqualität und müssen Böden und Tiere nicht ausbeuten. Viele Solawis setzen bei der Finanzierung auf das Prinzip der Solidarität. Jedes Mitglied kann in einer jährlichen Bieterrunde entsprechend den eigenen finanziellen Möglichkeiten den eigenen Anteil selbst bestimmen. Gleichzeitig werden auch die Löhne dem Bedarf nach ausgerichtet. Die Mitglieder helfen auch auf dem Acker oder bei der Organisation des Transportes und der Abholung der Lebensmittel. Das Konzept der Solidarischen Landwirtschaft bietet Erzeuger*innen also Planungssicherheit und die Möglichkeit der Unterstützung durch eine Gemeinschaft. Zudem ist es für die Verbraucher*innen neben dem Zugang zu vielfältigen, saisonalen und regionalen Nahrungsmittel auch eine direkte Erfahrung in ökologischer Landwirtschaft.

Bildungsarbeit wie beim Seminar Ackern für die Zukunft in Leipzig ist
ein zentraler Bestandteil der Transformation unseres Ernährungssystems.

 

Zentrale aktuelle Fragen und Herausforderungen
Wie schaffen wir es, die notwendigen Änderungen in der Erzeugung, Verteilung und Konsum von Lebensmitteln rechtzeitig umzusetzen, bevor alle kleinen Höfe, Bäckereien, Metzgereien, Molkereien etc. aufgegeben wurden? Wie lässt sich ein politischer Wille erreichen, wenn das System, das wir wollen, konträr zu den Profit-Interessen der Konzerne läuft und der Konzerneinfluss bzw. das Wirtschaftswachstum mehr zählt als das Gemeinwohl? Wie kann man die komplexen Zusammenhänge des Ernährungssystems und die vielschichtigen Lösungsansätze von Ernährungssouveränität leicht verständlich vermitteln? Wie können wir Menschen aus verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen erreichen und für lokalen, nachhaltigen Konsum begeistern? Was ist notwendig, damit sich alle Menschen regional und ökologisch erzeugte Lebensmittel finanziell leisten können?

Die Bewegung für Ernährungssouveränität verbindet ökologische und soziale Fragen, Herausforderungen und Lösungen. Nur gemeinsam gedacht und umgesetzt können die einzelnen Perspektiven und Ansätze zu mehr Ernährungssouveränität führen. Dazu gehört die Ökologisierung der Erzeugung und des Konsums unserer Lebensmittel, die Gestaltung der Lebensmittelverteilung lokal nach Bedarf statt weltweit nach Profit, Gendergerechtigkeit für ein befreites und gleichberechtigtes Miteinander und die Überwindung von Herrschaftsverhältnissen zwischen den Geschlechtern, die auch und besonders im Ernährungssystem noch immer bestehen, mehr Wertschätzung für Arbeit im Ernährungssystem, mehr soziale Gerechtigkeit durch die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und sozialen Verhältnisse im gesamten Lebensmittel-Sektor, das Recht auf Zugang zu, Nutzung und Kontrolle von Gemeingüter wieder zu erlangen – Boden, Wasser und Saatgut sollen allen oder niemandem gehören – sowie die Lebensmittel- und Agrarpolitiken im Sinne der Ernährungssouveränität zu verändern, um (neo-)koloniale und kapitalistische Strukturen aufzubrechen und Gesellschaft und Umwelt vor der Profitmaximierung globaler Konzerne zu schützen.

Die Gemeinsame EU-Agrarpolitik (GAP) hat wohl den stärksten Einfluss auf unser Ernährungssystem in Europa und auch darüber hinaus. Der politische Rahmen setzt allerdings immer noch auf Industrialisierung. Gemeinsam mit vielen weiteren Organisationen und Verbänden fordert Nyéléni.de die Abschaffung von pauschalen flächenbezogenen Zahlungen und stattdessen eine Orientierung sämtlicher GAP-Zahlungen an gesellschaftlichen Leistungen zum Wohl von Mensch, Tier, Boden und Klima. Die bereits seit 2011 jeden Januar in Berlin stattfindenden „Wir haben es satt“ – Demos der Kampagne „Meine Landwirtschaft“ bringt dafür jedes Jahr zehntausende Bürgerinnen und Bürger auf die Straße.

Seit 2011 gehen jedes Jahr über 10.000 Menschen bei der „Wir haben es
satt“ – Demo in Berlin für eine sozialere und ökologischere Agrarpolitik
auf die Straße.

In einem gemeinsamen Agrarökologie-Positionspapier fordert ein breites gesellschaftliches Bündnis von der Bundesregierung einen grundlegenden Wandel der Agrar-und Ernährungssysteme auf nationaler, EU- und weltweiter Ebene mit einem klaren Bekenntnis zur Agrarökologie, insbesondere in den Bereichen Forschung und Entwicklungszusammenarbeit. Letztere forciert durch Förderung von Privatinvestitionen das Modell industrieller Landwirtschaft in den sog. Entwicklungsländern und führt zu massiven Menschenrechtsverletzungen, u.a. durch Landgrabbing. In vielen Ländern des globalen Südens gibt es bereits Projekte gelebter Agrarökologie wie das indische Netzwerk Zero Budget Farming, wo agrarökologische Praktiken horizontal zwischen den Erzeuger*innen weitergeben werden.

Auf internationaler Ebene hat nach über 15 Jahren kontinuierlicher Arbeit – insbesondere von La Via Campesina – die Ernährungssouveränitäts-Bewegung einen großen Erfolg erzielt. Die Vereinten Nationen (UN) hat der vom Menschenrechtsrat vorbereiteten „Erklärung für die Rechte von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten“ zugestimmt und damit herausgestellt, dass besonders diese Gruppe häufig unter Menschenrechtsverletzungen leidet.

Beziehung von Ernährungssouveränität zu anderen Themen und Bewegungen
Es gibt viele Schnittmengen zu sozialen und ökologischen Themen. Beispiel Klimagerechtigkeit: Landwirtschaft und Ernährung sind Opfer und Täter des Klimawandels zugleich und besitzen dabei ein enormes Mitigationspotential (z.B. CO2-Bindung durch Humusaufbau). Klima war eins der Hauptthemen der diesjährigen „Wir haben es satt“ Demo, bei den Klimacamps gab es zum Teil ein Landwirtschafts-Barrio. Die Aktions-Initiative Free The Soil verbindet ebenfalls die Landwirtschaftsthemen mit Klimafragen. Beispiel Arbeiter*innen-Kämpfe: Soziale Gerechtigkeit ist auch ein wichtiger Baustein von Ernährungssouveränität und wird auf den Treffen immer besonders berücksichtigt. Bei La Via Campesina sind auch Landlosen-Bewegungen und Gewerkschaften Mitglied. Der Einsatz gegen die Menschenrechtsverletzungen an Saisonarbeiter*innen auf unseren Äckern und insbesondere Südeuropas Plantagen verbindet uns mit Organisationen, die sich für Migrant*innen einsetzen. Darüber hinaus ist Landwirtschaft auch eine bedeutende Fluchtursache: Landgrabbing, Desertifikation und Billigexporte entziehen den Menschen vor Ort die Produktionsgrundlage und Zerstören die Märkte, was oft zu Armut, Hunger und Krieg führt.

Problempotentiale zu anderen Themen gibt es beispielsweise bei den nachwachsenden Rohstoffen und erneuerbaren Energien, die oft in Konkurrenz zu Lebensmitteln angebaut werden. Darüber hinaus ist auch das Bedürfnis von fairen Erzeuger*innen-Preisen ein Konfliktfeld im Bezug auf die Versorgung von Menschen mit geringem Einkommen, solange nicht auch die Einkommenssituation aller Menschen gerechter gestaltet wird, wie beispielsweise mit einem bedingungslosen Grundeinkommen. Am Beispiel veganer Ernährung, die oft auch als eine Lösung der Klimafrage gesehen wird, lassen sich weitere potentielle Konflikte erkennen, wenn es um artgerechte Tierhaltung, Weidenutzung und geschlossene Nährstoffkreisläufe geht.

Der Austausch und die Verknüpfung mit anderen sozialen Bewegungen liegen uns am Herzen. Unser Ziel ist es über die Veränderung des Lebensmittel- und Agrarsystems einen breiten sozial-ökologischen Wandel herbeizuführen. Ein wesentlicher Teil unseres lebendigen Widerstandes sind der Aufbau und die Stärkung von selbstbestimmten und solidarischen Wirtschafts- und Lebensweisen für eine gemeinschaftliche Alternative zum Kapitalismus. Unsere Bewegung ist bunt, emanzipatorisch und dynamisch. Sie schafft Raum für Vernetzung, Bildung und Aktionen. Ernährungssouveränität steht für Solidarität, Gerechtigkeit, Ökologie und soziales Miteinander. Wir dulden daher keine rassistischen, fremdenfeindlichen und andere diskriminierenden oder lebensverachtenden Bestrebungen.

In Freiburg wird beim AgriKultur Festival jedes Jahr Ernährungssouveränität gefeiert.

Wir machen mit bei „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“, weil das Projekt eine neue Möglichkeit der Vernetzung sozialökologischer Bewegungen bietet. Nur mit der Vernetzung verschiedener Bewegungen geht es voran, so entstehen Synergien und wir sind gemeinsam stärker, beispielsweise bei der Planung und Durchführung gemeinsamer Aktionen. Uns ist allen gemein, dass wir ein „Gutes Leben für alle“ wollen. Natürlich bedeutet das für jeden individuell aber auch für die unterschiedlichen Perspektiven nicht immer dasselbe. Aber wir können an umfassenden Visionen arbeiten und auch daran, wie es möglich wird, kann am besten gemeinsam und aus verschiedenen Perspektiven erarbeitet werden. Darum freuen wir uns über den Austausch mit anderen Bewegungen.

Die Zeit ist reif für Ernährungssouveränität und ein gutes Leben für Alle!

Die Ackerbesetzung in Neu Eichenberg will den Bau eines 80 ha großen
Logistikgebietes verhindern: Für Ernährungssouveränität muss Ackerland
erhalten werden und regional statt im Supermarkt eingekauft werden.