Wir sind alle Sorgearbeitende
Im März 2014 startete das Netzwerk Care Revolution im Anschluss an eine Aktionskonferenz, an der 500 Menschen teilnahmen, die eines einte: Sorgebedürfnisse, Sorgearbeit und in der Folge auch die Menschen in Sorgebeziehungen, die abgewertet werden, an den Rand gedrängt, unsichtbar gemacht. So werden Beziehungen der Pflege, des Lernens, des Kümmerns oder der Sorge häufig als Quelle der Erschöpfung, der Bedrückung und auch der existentiellen Bedrohung erfahren.
Viele Gespräche in Workshops und am Rand der Konferenz vor fünf Jahren waren für Teilnehmende mit neuen und positiven Erfahrungen verbunden: Wir nehmen wahr, dass wir tatsächlich alle Sorgearbeitende sind. Nicht wenige arbeiten in Care-Berufen, beispielsweise als Ärzt_innen, Kranken- und Altenpfleger_innen, in der Betreuung und Erziehung von Kindern, als Haushaltsangestellte usw. Praktisch alle von uns kümmern sich in Familien, Freund- und Nachbarschaften, Vereinen und sozialen Projekten um andere Menschen. Und Selbstsorge betreiben wir alle. Dabei geraten wir immer wieder an und über die Grenzen unserer Kräfte.
Diese Überforderung in Care-Situationen ist keine Frage individuellen Versagens: Wenn die alleinerziehende Mutter im Job ist, weil sie andernfalls Sanktionen des Jobcenters ausgesetzt ist, in dieser Zeit nicht bei ihrem Kind sein kann, und dem Unternehmen die Öffnungszeiten der Kita egal sind, ist dies nicht ihr anzulasten. Wenn ein Altenpfleger bestenfalls noch „satt und sauber“ hinbekommt, weil er in einem Beruf beschäftigt ist, in dem die Unterbesetzung System hat, ist das nicht seine Schuld. Oder wenn auf Assistenz Angewiesene und Assistenz Gebende durch ein zu knappes Budget in einen Konflikt gebracht werden – zu wenig Assistenzstunden für die einen oder zu niedriger Stundenlohn für die anderen – verursachen nicht sie, sondern der Kostendruck dieses Problem.
Das System versagt
Nicht die einzelnen Sorgearbeitenden also versagen, sondern das Gesellschaftssystem. Dabei gibt es keinen Grund zur Annahme, dass im Rahmen eines neoliberalen Kapitalismus Lösungen zu finden wären. Denn wir sehen aktuell drei Trends, die uns Sorgearbeitende unter immer größeren Druck setzen.
Kostenminimierung: Solange im Zentrum der Ökonomie der maximale Profit sowie die Konkurrenz des Standorts Deutschland mit anderen Staaten stehen, soll Sorgearbeit vor allem eines sein: billig. Billiger wird sie beispielsweise, wenn durch Fallpauschalen in der Krankenhausfinanzierung die Verweildauer von Patient_innen immer kürzer wird, während die Anzahl der Patient_innen, die eine Pflegekraft zu betreuen hat, immer größer wird und gleichzeitig der Staat die in den Krankenhäusern notwendigen Investitionen nicht finanziert.
Privatisierung: Sorgearbeit soll nicht nur billig sein, sondern auch zu einem Feld der Kapitalanlage werden. Dies geschieht etwa in der Altenpflege, wo von Jahr zu Jahr der Anteil von Heimen wächst, die im Besitz privater Ketten wie Curanum oder Pro Seniore sind, die wiederum Eigentum von Konzernen oder Hedgefonds sind. Diese Heime konkurrieren nicht nur mit anderen um Pflegebedürftige, sie müssen dabei auch Rendite abwerfen. Und so ist es kein Zufall, dass die Löhne in privaten Heimen besonders niedrig sind und Tarifverträge weitgehend unbekannt.
Verlagerung in Familien: Am billigsten ist Sorgearbeit dann, wenn sie kostenlos stattfindet. Dies geschieht zum allergrößten Teil in Familien. Sich um nahestehende Menschen zu kümmern, ist sinnvoll und von den Sorgenden gewünscht sein. Wenn jedoch Menschen, die für Pflegebedürftige Verantwortung übernehmen, oder Alleinerziehende, zu ca. 90% Mütter, dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, drohen sie in Armut zu geraten, sofort oder spätestens mit der Rente. Dies durch mehr Erwerbsarbeit auszugleichen, führt zu Überforderung – und für Kinder oder Pflegebedürftige bleibt immer zu wenig Zeit.
Forderungen vom Netzwerk Care Revolution
Hier hat sich nichts zum Besseren geändert. Und so bleibt der Gründungskonsens erhalten, mit dem wir gestartet waren: Wir werden uns nicht als Care-Beschäftigte, als Sorgearbeitende in Familien und Nachbarschaften oder als Menschen, die auf Sorge angewiesen sind, gegeneinander ausspielen lassen.
Dies bedeutet zunächst einmal ganz konkret, ausreichende Ressourcen für die Care-Aufgaben einzufordern. Denn genügend Personal, bessere Löhne für Care-Beschäftigte oder barrierefreie Gebäude und Wege müssen zunächst finanziert werden. Wo Sorgebereichen wie Altenpflege oder Assistenz die benötigten Mittel entzogen werden, geraten Menschen in verschiedenen Sorgepositionen in Interessengegensätze: Was die einen erhalten, fehlt den anderen. Deswegen ist es so dringend erforderlich, über Care-Positionen hinweg für die Würdigung und Finanzierung des Care-Bereichs zu streiten. Aus diesem Wissen heraus suchen wir nach Lösungen, die die Interessen aller Menschen in Sorgebeziehungen wahrnehmen. Hierfür müssen wir zunächst miteinander reden und dann gemeinsam kämpfen. Auf diese Weise entsteht nach und nach eine Care-Bewegung.
Eine Care-Bewegung entsteht
So rief zeitgleich mit der Gründungskonferenz im Frühling 2014 die ver.di-Betriebsgruppe an der Charité Berlin, dem Verbund der Berliner Universitätskliniken, erstmals zu einem Streik für mehr Personal auf den Pflegestationen auf. Ein solcher Tarifvertrag, der die Überlastung der Pfleger_innen beenden sollte, war zu diesem Zeitpunkt etwas Neues; auch die Gewerkschaft selbst musste von den im Betrieb Aktiven von diesem Weg erst überzeugt werden. Doch neu war ebenfalls, dass sich ein Unterstützungsbündnis „Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal in den Krankenhäusern“ gründete. Deren Mitglieder erklärten sich nicht nur mit dem Arbeitskampf der Pfleger_innen solidarisch, sondern sie stellten sich explizit aus der Rolle potenzieller Patient_innen und pflegender Angehöriger an deren Seite. Das gemeinsame Interesse als Menschen, die gemeinsam in Sorgebeziehungen stehen, stand hier im Mittelpunkt.
Der Arbeitskampf an der Charité war der erste, ist aber längst nicht mehr der einzige. Die Tarifbewegung erreichte mittlerweile in einigen anderen Kliniken Abschlüsse, auch Unterstützungs- und Gesundheitsbündnisse sind in vielen Städten aktiv. Darüber hinaus versuchen Bündnisse in Bayern, Berlin, Bremen und Hamburg, über Volksbegehren Entlastung der Stationen und Krankenhausfinanzierung durch Landesgesetze zu regeln. In diesen Bündnissen und Auseinandersetzungen sind dabei häufig auch Regionalgruppen des Netzwerks Care Revolution vertreten. Am Beispiel der Krankenhäuser zeigt sich: Eine Care-Bewegung kommt tatsächlich ins Laufen.
Wir sehen uns also als Teil einer im Entstehen begriffenen Care-Bewegung, innerhalb derer wir uns als Menschen in Sorgebeziehungen mit unseren unterschiedlichen Bedürfnissen wahrnehmen und nach Wegen suchen, wie alle diese Bedürfnisse erfüllt werden können. Dabei stehen zunächst unmittelbare Forderungen nach Entlastung und mehr Ressourcen im Mittelpunkt. Aber wir wissen auch, dass solche Forderungen in einem neoliberalen Kapitalismus an ihre Grenzen stoßen. Statt immer wieder gegen diese zu laufen, ist unser Ziel, sie einzureißen. Solange etwa Krankenhäuser oder Pflegeheime im Besitz privater Konzerne sind, geht dringend benötigtes Geld nicht in mehr Personal oder ausreichenden Lohn, sondern in die Taschen der Kapitalbesitzer_innen, zum Beispiel durch Dividenden. Gleichzeitig ist in Unternehmen in Privatbesitz das Vorrecht der Eigentümer_innen festgeschrieben, wenn es für uns um Sorgebeziehungen geht, für sie um die Verwertung des eingesetzten Kapitals. Deswegen steht Care Revolution auch dafür: Private, renditeorientierte Unternehmen haben im Sorgebereich nichts zu suchen; wir treten für dessen Vergesellschaftung ein. Das bedeutet gleichzeitig: Nicht nur die Verlagerung von Einrichtungen in beispielsweise kommunalen Besitz, sondern auch deren umfassende Demokratisierung: Beteiligung von Beschäftigten, familiär Sorgearbeitenden, auf Sorge Angewiesenen – kurz: aller Menschen in Sorgebeziehungen – an den Entscheidungen.
Diese umfassende Demokratisierung ist der nächste Schritt. Wenn wir jedoch im Rahmen der entstehenden Care-Bewegung die Interessen aller diskursiv und in gemeinsam geführten Kämpfen wahrnehmen, werden wir noch viel mehr in Frage stellen: Ein Umfeld, das krank und bedrückt macht, ungleiche geschlechtliche Arbeitsteilung, Lösung von Care-Problemen auf Kosten von Menschen in Osteuropa oder dem globalen Süden, Wohnungen, die fehlen, und Viertel ohne nachbarschaftliche Infrastruktur.
Je besser wir darin werden, uns als sorgende und sorgebedürftige, als aufeinander verwiesene Menschen wahrzunehmen, desto klarer werden wir auch die Schranken sehen, auf die wir in diesem Gesellschaftssystem stoßen, und uns wird auch klarer werden, welche Formen des Lebens miteinander wir stattdessen anstreben. Denn das ist Care Revolution: Alle Verhältnisse umwerfen, die uns daran hindern, sorgend und solidarisch miteinander zu leben.
Zum Netzwerk Care Revolution
Care Revolution ist ein Zusammenschluss von über 80 Gruppen und Personen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die in verschiedenen Feldern sozialer Reproduktion – Hausarbeit, Gesundheit, Pflege, Assistenz, Erziehung, Bildung, Wohnen und Sexarbeit – aktiv sind. Gemeinsam ist ihnen der Kampf gegen Lücken in der öffentlichen Daseinsvorsorge, die zu Überforderung und Zeitmangel führen. Langfristig streben wir neue Modelle von Sorge-Beziehungen und eine Care-Ökonomie an, die nicht Profitmaximierung, sondern die Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum stellt, und die Sorgearbeiten und Care-Ressourcen nicht nach rassistischen, geschlechtlichen oder klassenbezogenen Strukturierungen verteilt.
Weitere Informationen zu Streiks in Bezug auf Care Revolution:
https://frauenstreik.org
https://www.transnational-strike.info
Angehängt die nach wie vor aktuelle inhaltliche Grundlage des Netzwerks aus 2014. Ein eigener Text für die Webseite von „In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ ist in Vorbereitung.
Resolution der Aktionskonferenz Care-Revolution, März 2014
Von der Krise der sozialen Reproduktion …
1. Alltagserfahrungen in der Krise
In der aktuellen Krise leben und arbeiten viele unter Druck: Zeitstress und Angst vor einer ungewissen Zukunft bestimmen den Alltag. Einige müssen immer mehr arbeiten, andere finden keine Jobs oder haben trotz Job nicht genug zum leben. Hinzu kommt die Sorge um sich und andere: Kinder, Alte, Kranke, Freund_innen, Angehörige. Erholung, Muße und die Möglichkeit, Gesellschaft mit zu gestalten, scheinen für immer mehr Menschen unerreichbar. Die Sparmaßnahmen, die als einzige angebliche Lösung zur Krise des Kapitalismus präsentiert werden, untergraben die Errungenschaften queerfeministischer und anderer emanzipatorischer Kämpfe. Viele sind von Armut, Gewalt oder struktureller und individueller Diskriminierung betroffen. Für Menschen ohne gesicherten Aufenthaltsstatus steht fast alles unter Vorbehalt. Herrschende Vorstellungen davon, wie Menschen zu sein haben, greifen weit ins Leben ein. Menschen, die dem nicht entsprechen, erfahren Unsicherheit und werden von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Ein Gutes Leben sieht definitiv anders aus!
2. Der Markt verdrängt das Soziale: Dienstleistungen und Beziehungen unter Druck
Öffentliche Dienstleistungen wie KiTa, Schule, medizinische Versorgung, Assistenz und Pflege aber auch Wohnen müssen immer mehr privat finanziert werden. In guter Qualität werden sie zu einem Privileg der Reichen. Zwei‐Klassen‐Medizin und ein privatisiertes Versicherungssystem entscheiden über die Gesundheit der einzelnen – manchmal über Leben und Tod. Ein verarmtes öffentliches Bildungssystem lässt teure Privatschulen wie Pilze aus dem Boden schießen. Mietexplosion und die Privatisierung öffentlichen Raums führen dazu, dass Menschen aus ihren Wohngebieten und Lebensumfeld verdrängt werden. Soziale Ausschlüsse werden dadurch verstärkt. Auch der menschliche Körper fällt unter den Optimierungszwang der kapitalistischen Ökonomie. Gesundheit wird zur individuellen Aufgabe gemacht und zur persönlichen Leistung erkoren. Menschen mit Beeinträchtigungen, die behindert werden, werden als nichtleistungsfähig abgewertet. Kapitalistische Verhältnisse haben Einfluss auf Sorge und Fürsorge: Zeitdruck und materielle Unsicherheit produzieren Gewalt und zerstören soziale Beziehungen und Sorgeverhältnisse.
3. Sorgearbeit: die unsichtbare Seite der kapitalistischen Ökonomie
Für die Sorge um uns und andere fehlen Zeit und Wertschätzung. Wo Sorgearbeit als Erwerbsarbeit geleistet wird, steht sie unter Kostendruck, ist der kapitalistischen Profitlogik unterworfen. An allem wird gespart: Löhne werden gedrückt, Zeit und materielle Absicherungen knapp gehalten. (Nicht nur) unter solchen Bedingungen gibt es in Care‐Beziehungen Abhängigkeiten, die zu körperlicher, sexualisierter und psychischer Gewalt führen können. Der größte Teil der Sorgearbeit wird weiterhin unbezahlt geleistet – bleibt gesellschaftlich unsichtbar. Wegen der mangelhaften öffentlichen Versorgung wird Sorgearbeit wieder in die Haushalte verschoben. Ihre zwischenmenschliche Qualität muss sich aber auch hier gegen zeitlichen und finanziellen Druck sowie Überforderung behaupten. Damit wird sie zur Doppelt‐ und Dreifachbelastung. Wer für wen sorgt, wie gut jemand für sich und andere sorgen kann, und wer wie viel Lohn und Anerkennung für geleistete Sorgearbeit erhält – all das ist entlang von Herrschaftsverhältnissen organisiert: Beispielsweise wird auf Grund patriarchaler Verhältnisse bezahlte wie unbezahlte Sorgearbeit noch immer eher Frauen*(1) zugewiesen, geht ihnen angeblich quasi ‚natürlich’ von der Hand. Dadurch werden Fachkompetenzen abgewertet, das Geleistete als Selbstverständlichkeit missachtet. Niedrige Löhne in Sorgeberufen und ein elitäres Bildungssystem führen dazu, dass sich in der Care-Arbeit außerdem soziale Ungleichheiten verfestigen. Ähnliches gilt – gestützt auf globale Lohnunterschiede – auch für eine rassistische Arbeitsteilung: migrantische Carearbeiter_innen können im globalen Norden zu Billiglöhnen ohne soziale Absicherung angeworben werden. Asyl‐, Arbeitsrecht und Diskriminierungen bestimmen den Zugang.
4. Her mit dem guten Leben
Ein gutes Leben steht im Widerspruch zur Konkurrenz und Profitlogik des Kapitalismus. Diese Unterordnung wollen wir nicht länger hinnehmen. In der Care Revolution stehen die Menschen und ihre Lebensverhältnisse im Zentrum. Gemeinsam können wir Bedingungen schaffen, unter denen unterschiedliche, individuelle, kollektive und gesellschaftliche Bedürfnisse und Interessen verwirklicht werden können: Ein gutes Leben für alle – weltweit!
5. Sorgearbeit aufwerten – eine Kultur der Fürsorglichkeit absichern
Sorgearbeit ist eine Bedingung menschlicher Existenz und Voraussetzung für die Entwicklung eines demokratischen Gemeinwesens. Ihre Ökonomisierung muss gestoppt werden. Statt Sorgearbeit ins Unsichtbar-Private zu drängen und denen aufzuhalsen, die am stärksten isoliert und am wenigsten in der Lage sind, sich zu wehren, gilt es sie zu einem zentralen Gegenstand politischer Aushandlung zu machen. Care ist ein Grundrecht und liegt in gesellschaftlicher Verantwortung. Diskriminierungen und Gewalt, die mit Sorgearbeit verbunden sind, gilt es abzubauen: Care ist nicht Frauen*Sache, der gesellschaftliche Bedarf muss von allen Menschen getragen werden. Unsere Care-Krise darf nicht auf Kosten des globalen Südens gelöst werden. Sofern Sorgearbeit als Erwerbsarbeit geleistet wird, muss sie von gut bezahlten und gut ausgebildeten Fachkräften verrichtet werden, die über ausreichende materielle und Zeitressourcen verfügen. Dies ist im Interesse der Care-Arbeiter_innen und der Sorge‐ Empfänger_innen. Dennoch können Interessenwidersprüche entstehen, die demokratisch ausgehandelt und bearbeitet werden müssen. Menschen, die Assistenz, Pflege oder Betreuung benötigen, müssen über deren Charakter sowie über institutionelle Formen selbst entscheiden können. Die Achtung der Selbstbestimmungsrechte von Kranken, Pflegeerhaltenden, Assistenznehmenden sowie von Kindern und Jugendlichen ist oberstes Gebot jeder Sorgearbeit. Wer Sorgearbeit individuell oder zusammen mit anderen leisten will, muss durch entsprechende Arbeitszeitmodelle und gesellschaftliche Regelungen dafür materiell und zeitlich abgesichert werden. Dazu gehört es auch, flexibel und selbstbestimmt zwischen verschiedenen Tätigkeiten (Erwerbs-, Sorgearbeit, politische Arbeit, Muße und Bildung) abwechseln zu können.
6. Zeit gewinnen
Die Zeit, die gebraucht wird, um die notwendigen Güter und Lebensmittel herzustellen, ist in den letzten 50 Jahren etwa um die Hälfte weniger geworden. Aber nicht Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung der Erwerbsarbeit sind die Folge, sondern das neoliberale Regime setzt auf Spaltung: Während die einen immer länger arbeiten, werden die anderen in Erwerbslosigkeit oder Prekarität entlassen. Für die Care-Revolution ist eine radikale Verkürzung der Erwerbsarbeit unverzichtbar. Nur so ist für alle die Zeit zu gewinnen, die für sorgende und pflegende Arbeit genauso gebraucht wird wie für die Sorge um sich selbst und um das Gemeinwesen.
7. Wohnen ist Menschrecht
Günstiger und würdevoller Wohn‐ und Lebensraum muss allen Menschen zur Verfügung stehen. Dazu gehört die Abschaffung einer Lagerunterbringung von Flüchtlingen sowie eine Abschaffung der Residenzpflicht. Mit Wohnraum soll kein Profit gemacht werden. Die Gestaltung der Städte und Gemeinden muss mit ihren Bewohner_innen erfolgen. Aufenthaltsmöglichkeiten im öffentlichen Raum, Freizeiteinrichtungen, Sportanlagen und Platz für Kinder und Jugendliche sowie Barrierefreiheit dürfen keine Frage des Geldes sein. Auch im ländlichen Raum muss eine öffentliche Infrastruktur geschaffen werden, die diesen Namen verdient. Neben hochwertiger Gesundheitsversorgung, Bildung und Kinderbetreuung betrifft dies vor allem ein dichtes Netz gebührenfreien öffentlichen Nahverkehrs.
8. Bildung ist ein Recht für alle Menschen – Bildung demokratisieren
Lernen muss ein Moment der Herausbildung einer gerechten Gesellschaft sein, dazu gehört die herrschaftssensible Ausbildung von Pädagog_innen. Bildung muss für alle kostenfrei zur Verfügung stehen und darf keiner Ökonomisierung unterliegen. Außerschulische und autonome Bildungsprozesse müssen anerkannt und gestärkt werden.
9. Das gemeinsame Öffentliche stärken
Wir fordern einen Ausbau des gemeinsamen Öffentlichen. Qualitativ hochwertige soziale Infrastrukturen sind Bedingungen für ein angstfreies Leben und gesellschaftliche Teilhabe. Und soziale Dienstleistungen müssen allen ohne Einschränkung zur Verfügung stehen. Wir fordern ein Recht auf Rechte für alle. Das bedeutet – dort wo es ihn gab – kein Zurück zum alten Wohlfahrtstaat, der nicht nur oft paternalistisch und repressiv war, sondern auch patriarchal und rassistisch. Das gemeinsame Öffentliche umfasst gesellschaftliche Umverteilung genauso wie vielfältige Formen der Selbstorganisierung von Menschen an unterschiedlichen Orten. Beides gehört zusammen! Hier gilt es neue Modelle sozialer Infrastrukturen zu entwickeln, in denen der gesellschaftliche Reichtum in demokratischen Verfahren so eingesetzt werden kann, dass die Interessen und Bedürfnisse unterschiedlicher Gruppen und Individuen berücksichtigt sind. Wir brauchen eine Vielfalt unterschiedlicher Sorge‐Arrangements und sozialer Dienste.
10. Los geht’s
Um für alle diese Forderungen zu streiten, haben wir uns aus unterschiedlichen Erfahrungen, beruflichen Hintergründen und politischen Spektren zusammengefunden. Eine Care-Bewegung muss Anliegen verknüpfen und Kräfte bündeln. Für die Care Revolution!
(1) Der * soll markieren, dass die Kategorie ‚Frau’ keine biologische, sondern eine sozial hergestellte ist, hinter der sich unterschiedliche Lebensrealitäten und Erfahrungen verbergen. Die Verwendung dieser sprachlichen Markierung in der Resolution war umstritten.