Über das Recht zu bleiben und zu gehen
Von Ouagadougou über Mitilini nach Nickelsdorf und weiter. Einige Anmerkungen zu den aktuellen Kämpfen um Bewegungsfreiheit und gerechte Entwicklung
Von transact [*], Oktober 2015
Die Dublin-Regelung geschleift bis außer Kraft, Frontex mit dem Rücken zur Wand, Europas Grenzen außer Kontrolle: In neuer Dimension und mit anhaltender Hartnäckigkeit haben die Bewegungen der refugees und migrants das EU-Grenzregime regelrecht überrannt. Das Recht auf Bewegungsfreiheit wird tagtäglich tausendfach durchgesetzt, im Zentralen Mittelmeer und in der Ägäis, durch Italien und über die Balkanroute, in Deutschland bis nach Skandinavien. Die Gegenseite versucht mit allen Mitteln, die verlorene Kontrolle zurückzugewinnen. Sie schärfen ihre Gesetze der Ausgrenzung und Entrechtung. Fast jeden Tag reißen sie immer noch und immer wieder Menschen in den Tod: erstickt in LKWs, ertrunken im Meer.
Doch die Selbstorganisation und das Selbstbewusstsein der Geflüchteten und Migrant_innen nehmen stetig zu, viele haben ihre Erfahrungen aus der Arabellion im Gepäck. Der Aufbruch zum „March of Hope“ am 4. September im Budapester Bahnhof markierte einen neuen Höhepunkt. Davon inspiriert kam ein neuer Schub von „Refugee Welcome“-Initiativen in Gang, verknüpft mit einer riesigen medialen Aufmerksamkeit, nicht nur in Deutschland und Österreich überwiegend in positiv-solidarischer Berichterstattung für die Geflüchteten. Bei allen „Ambivalenzen dieser Hegemonie“ – von bisweilen unerträglichem Paternalismus oder zynischen Nützlichkeitsdiskursen, inklusive Unterscheidung in gute und schlechte Flüchtlinge – sehen wir ein gesteigertes Potential für eine transnationale antirassistische Bewegung, die den „langen Sommer der Migration“ weiter erfolgreich flankieren kann und gleichzeitig den Impuls geographisch und sozial ausweiten muss. Und spätestens an dieser Stelle gilt es auch, nicht an den Außengrenzen der Europäischen Union stehen zu bleiben, sondern in einer transnationalen (Solidaritäts-)Perspektive den Bogen zu sozialen und politischen Auseinandersetzungen in den Herkunftsländern von Geflüchteten und Migrant_innen zu schlagen. Denn Fakt ist, dass sich die EU gerne als Feuerwehr präsentiert, wo sie doch selbst all zu häufig als Brandstifterin agiert – und zwar immer dann, wenn eigene Interessenslagen duchgeboxt werden sollen. Entsprechend sehen wir derzeit drei zentrale Herausforderungen:
Erstens: Fluchtwege freihalten – das Recht zu gehen!
Dazu gehören einerseits die Verstetigung und der Ausbau von Solidaritätsstrukturen entlang der gesamten Route. Von Initiativen im gesamten Mittelmeerraum wie Sea Watch (http://sea-watch.org/), Alarmphone (http://alarmphone.org/de/) oder dem Rasthaus für Migrantinnen und ihre Kinder in Rabat (http://afrique-europe-interact.net/1318-0-Das-Projekt.html), über konkrete Fluchthilfe- und Webguides bis hin zur materiellen Unterstützung von lokalen Projekten, insbesondere im Balkan beim Aufbau von Anlaufstellen und Gesundheitsposten. Zum anderen braucht es politisch offensive Mobilisierungen wie die Konvois aus Wien nach Ungarn oder die Open-Borders Karawane aus Ljubljana (siehe unten).
Zweitens: Hintergründe thematisieren – das Recht zu bleiben!
Ob durch (Ressourcen-)Kriege und Waffenexporte, durch Unterstützung korrupter Eliten oder durch Landraub, Überfischung und knallharte Handelspolitiken (verkörpert durch das viel zitierte „globale Huhn“): es gibt wenige Gründe für Flucht und Migration, an denen die Global Player der Weltökonomie und somit auch Europa und Deutschland nicht bestens verdienen. Um so verlogener erscheinen die Politikerreden, in denen proklamiert wird, die Ursachen der Migration nunmehr anpacken zu wollen. Sie wollen allenfalls eine weitere Zurichtung im Ausbeutungsgefälle. Dagegen steht die Kooperation mit selbstorganisierten Initiativen und Kämpfen für soziale Gerechtigkeit im globalen Süden. Denn eines dürfte klar sein: An den neo-kolonialen Abhängigkeitsverhältnissen lässt sich nur etwas ändern, wenn soziale Basisbewegungen aus Afrika und Europa in großem Stil gleichberechtigt, verbindlich und direkt zusammenarbeiten. Ob in Mali oder Burkina Faso bei Kämpfen für das Recht zu bleiben (und somit für eine gerechte bzw. selbstbestimmte Entwicklung). Oder in Syrien, wo es bis heute nicht nur hartnäckgigen Widerstand gegen das Assad-Regime und die IS-Truppen gibt, sondern auch beeindruckende Initiativen, Neues zu schaffen – ob in Erbin, Quamishli, Daraa oder Kobane.
Drittens: Kämpfe verbinden zu einer sozialen Offensive!
Wie wird es weitergehen in Europa und in Deutschland? Gelingt den Herrschenden die Eindämmung der erfolgreichen Flüchtlingskämpfe? Suchen sie notfalls verstärkt den Pakt mir rechtspopulistischen und rassistischen Parteien und Organisationen? Gelingt eine soziale Spaltung im Unten, das Teile und Herrsche im Gegeneinander-Ausspielen sozialer Bewegungen? Oder kann der Impuls der Autonomien und Kämpfe der Migration in andere soziale Fragen übergreifen? Können die Märsche der Hoffnung Mut machen und eine neue Dynamik sozialer Kämpfe in Europa entfachen? Freiheit, Würde, Demokratie, soziale Sicherheit für sich und ihre Familien, dafür demonstrieren die Menschen auf der Flucht mit allem Einsatz, dafür lassen sie sich von Zäunen und Grenzen nicht aufhalten. Sie wollen ankommen am Ort ihrer Wahl, zumeist bei Verwandten und Freund_innen quer durch Europa, dort die Sprache lernen, vernünftig wohnen, arbeiten, leben. „Solidarity for all“, der Slogan emanzipativer Netzwerke in Griechenland, wäre aufzugreifen, um alle Spaltungsversuche offensiv zu bekämpfen und gleichzeitig die „Normalität der Austerität“, die Politik der Sozialkürzungen und Prekarisierung, neu anzugreifen. Bezahlbare Wohnungen für alle durch neue Wohnungsbauprogramme, Zugang für alle zu gesundheitlicher Versorgung und Bildung, bedingungslose Grundeinkommen und erhöhte Mindestlöhne: Diese sozialen Forderungen können und müssen mit neuem Leben gefüllt werden, durch soziale Aneignung und soziale Streiks, lokal bis transnational. Kurzum: Die Kämpfe der Geflüchteten und Migrant_innen haben die soziale Frage mit neuer Wucht auf die Tagesordnung gesetzt. Greifen wir sie auf, reißen wir die Grenzen nieder, in allen Ländern, in allen Köpfen!
Schließlich noch ein Wort zu uns und zur Frage, wie wir uns in diesen Kämpfen verorten: »Transact!« – dieser Slogan verleiht unserer gemeinsamen Überzeugung Ausdruck, dass regionale, überregionale und transnationale Kämpfe miteinander verbunden werden müssen. Dementsprechend suchen wir nach Möglichkeiten des “Crossover”, der Brückenschläge zwischen verschiedenen Teilbereichsbewegungen und zwischen mehr und weniger radikalen Linken. Es geht uns um die Verbindungen zwischen unterschiedlichen sozialen Realitäten und Kämpfen – in unseren Augen eine zentrale Bedingung, um gegen das globale Ausbeutungsgefälle anzugehen. Wir beziehen uns dabei auf vielfältige (Alltags-)Kämpfe und Sozialbewegungen, entsprechend sind wir in ganz unterschiedlichen Bereichen aktiv. In der folgenden chronologischen Collage sind einige dieser (Alltags-)Kämpfe schlaglichtartig skizziert und mit Links zum Weiterlesen versehen – und das vor allem hinsichtlich dessen, dass die diesbezüglichen Auseinandersetzungen zugleich exemplarische Antworten (unter anderem) auf besagte drei Herausforderungen enthalten.