Stadtteilorganisierung


In welcher Gesellschaft wollen wir leben? –

Die Wohnungsfrage. Kotti & Co

Die Frage nach bezahlbarem Wohnen ist in vielen Städten die drängendste soziale Frage geworden. Jahrzehnte lang wurden unsere kommunalen Wohnungsbaugesellschaften verkauft, privatisiert, an die Börse gebracht und Aufsichtsratsposten an „ausgediente“ Politiker*innen vergeben.

Sozialwohnungen waren in der Bundesrepublik Investitionsprogramme für Steuersparer.
Wir am Kottbusser Tor in Berlin wohnen in den (privaten, staatlich finanzierten) Sozialwohnungen und den ehemals städtischen Wohnungen. Und wir haben große Probleme, die gestiegenen Mieten zu bezahlen. Wir haben uns 2011 als Mieterinitiative gegründet, weil die Mieten in den Sozialwohnungen unbezahlbar wurden für alle mit kleinen Einkommen. Selbst für die Jobcenter waren die Sozialwohnungen zu teuer.

Es ist kein Zufall, dass momentan überall um uns herum neue Kiez- und Mieter*innen-Initiativen entstehen – wie GloReiche, Bizim Kiez, OraNostra, NoGoogleCampus – denn unsere Kieze und unser Wohnen stehen unter einem enormen Druck. Berlin – wie viele andere Großstädte wird als Goldgrube für Finanzmarktinvestor*innen gesehen. Der Goldrausch wird durch den Widerstand der Initiativen immerhin gestört. Google zieht nach lauten und vielfältigen Protesten erstmal nicht in geplanter Form nach Kreuzberg. Und die 100.000 Berliner Sozialwohnungen haben seit 2016 keine Mieterhöhungen erhalten; durch unsere Kämpfe haben wir die jährliche Mieterhöhung gestoppt. Mit einem Mietenvolksentscheid haben wir 2015 die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften gezwungen, sich demokratischer auszurichten und für Sozialmieter*innen einen Mietzuschuss erkämpft, so dass sie nicht mehr als 30% ihres Einkommens für die Bruttowarmmiete ausgeben müssen.

Das „Gecekondu“ am Kottbusser Tor

Dass viele von uns am Kottbusser Tor (Kotti) in Berlin Kreuzberg keinen deutschen Pass haben oder unsere Eltern oder Großeltern mal eingewandert sind und nun nicht genug Rente haben, ist kein Zufall. Die miserable Einwanderungs- und Sozialpolitik der Bundesrepublik hat dazu geführt, dass Menschen arm sind, die in ihrer Jugend hierher migriert sind und ihr Leben lang gearbeitet haben. Rassistische Vermietungspraktiken kommen dazu. Bei uns geht es also um hohe Mieten, Sozialen Wohnungsbau, Privatisierung von Wohnraum, Verdrängung und Rassismus.

Die Praktiken der Migration haben trotz der ausschließenden offiziellen Politik dazu geführt, dass unsere Stadtteile durch die Migration geprägt sind, dass sich eine Offenheit und Neugier gegenüber Neuen, eine praktische Solidarität und Unterstützungsstrukturen etabliert haben. Kotti & Co kämpft mit der Perspektive der Migration für eine solidarische Stadt.

Viele am Kotti haben eine Migrationsgeschichte. Viele kämpfen mit Rassismus in der Schule, auf dem Amt, beim Vermieter oder einfach im Alltag. Es gibt vieles, was uns trennen könnte. Ob Religion, Politik, Sexualität oder Lebensentwurf – wir sind eine Nachbarschaft, die eher durch Unterschiedlichkeit geprägt ist. Was uns zusammen hält, ist unser gemeinsames Problem mit den hohen Mieten und mit Rassismus.

Am Kottbusser Tor sind etwa 3.000 Sozialmieter*innen von drohender Verdrängung betroffen. 80% haben eine Migrationsgeschichte. Die rund 1.000 Sozialwohnungen am Kottbusser Tor gehörten mal einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft. Unter einer Rot-roten Landesregierung und einem Finanzsenator Thilo Sarrazin wurden sie privatisiert.

Doch nicht nur am Kotti gibt es das Problem der überteuerten Sozialwohnungen. In Berlin gab es 2012 noch 140.000 Sozialwohnungen, heute sind es nicht mal mehr 100.000. Die Sozialwohnungen haben also 2 Probleme: sie sind zu teuer und es werden immer weniger. Herauszufinden, woran das liegt, was das strukturelle und was das politische Problem dahinter ist, ist Teil unseres Kampfes. Am Anfang haben uns alle großen Interessensvertretungen (Mietervereine und Parteien) nur gesagt – wir können nichts tun, das System ist eben so, ihr könnt nur ausziehen oder Druck machen.
Wir wollten und konnten weder ausziehen, noch aus Kreuzberg wegziehen. Wir lieben unseren Kotti, weil wir hier eine Gesellschaft aufgebaut haben, die mit Unterschiedlichkeit umgehen kann, die solidarisch miteinander lebt und Konflikte aushält.
Außerdem gibt es schlichtweg keine bezahlbaren Wohnungen mehr in Gegenden, wo keine Nazis eine Gefahr auf der Straße und in der Nachbarschaft darstellen. Die Nachbarschaften, die von Migration geprägt, geöffnet und solidarisch wurden, sind heute attraktiv für viele, die sich auch höhere Mieten leisten können. Verdrängung trifft dann zuerst die ehemalige Gastarbeiter*generation besonders hart.

Von außen wird unsere Nachbarschaft oft als Problemviertel hingestellt. Die Polizei macht rassistische Kontrollen und vielen das Leben schwer. Der öffentliche Raum und unsere Hauseingänge sind Treffpunkt für verschiedene Drogenszenen. Und viele Politiker*innen hat überrascht, als wir als Nachbarschaft zu sprechen begonnen haben und gesagt haben, dass wir hier gerne leben. Denn wir haben ein Zuhause geschaffen, das trotz aller Ausgrenzungsversuche ein Kiez ist, der offen ist für alle, die hier sind und für die, die noch ankommen. Es geht uns in unserem Kampf auch darum, wie wir in unserer Unterschiedlichkeit miteinander leben können und wollen. Dass das nicht immer einfach ist, wissen wir. Doch im Ringen um das Gemeinsame liegt das Herz der Menschlichkeit. Solidarität ist der Inbegriff eines sozialen Miteinanders in der offenen Gesellschaft.

 

Wir stellen uns immer wieder aufs neue viele soziale und politische Fragen: Was verbindet uns? Wer hört die Ausgegrenzten? Wer setzt sich eigentlich politisch für Mieter*innen ein? Behandeln die großen migrantischen Vereine eigentlich auch Mieter*innen-Interessen? Was können die Mieter*innenvereine für Sozialmieter*innen tun? Warum wurden die großen Bestände kommunaler Wohnungen verkauft? Lassen sie sich re-kommunalisieren? Und wieviel Mitbestimmung ist für Mieter*innen möglich, wenn die Wohnungen wieder kommunal sind? Wie werden wir das schlimmste private Wohnungsunternehmen „Deutsche Wohnen“ als Vermieter wieder los? Wie geht Enteignung? Wie lassen sich soziale und Mieterrechte durchsetzen? Was passiert, wenn die Wohnungen nicht mehr Sozialwohnungen sind weil die Bindungen auslaufen? Wie können wir solidarisch miteinander kämpfen? In was für einer Stadt und Gesellschaft wollen wir leben?

Kotti & Co hat die Wohnungsfrage von Anfang an aus der Perspektive der Migration gestellt. Wir wissen, dass Wohnen ein Grundbedürfnis ist, das nicht den Profitinteressen von privaten Eigentümern und auch nicht der Austeritätspolitik von wechselnden Landesregierungen unterworfen sein darf. Wohnen ist Gemeinwohl und kein Spekulationsobjekt. Wo wir wohnen, ist nicht egal, unser Kampf ist ein Kampf um das Recht auf Stadt, auf Innenstadt. Keine Mieterin soll in Randbezirke ziehen müssen, wenn sie es nicht selbst will. Die Stadt ist nicht überall gleich offen für Migration und Neues. Rassismus ist Teil unseres Alltags, wir kämpfen gegen Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, auf den Ämtern und wollen eine Stadt, in der niemand auf der Straße Angst haben muss vor Angriffen.

Wir fragen nicht nach Pass oder Herkunft, sondern ob du auch morgen noch deine Miete bezahlen kannst und ob wir zusammen dafür kämpfen wollen. Alle Kämpfe, die sich nur auf Staatsbürger*innen beziehen, oder die bestimmte identitäre Zugehörigkeiten produzieren, sind nicht unsere Kämpfe. Mit allen anderen sind wir grundsätzlich solidarisch.

Wir sind Teil der Kämpfe um ein Recht auf Stadt, wir sind Teil der mietenpolitischen Bewegung. Aktuell sind wir Teil des Bündnisses „Deutsche Wohnen Enteignen“, und Teil des Netzwerks „Kommunal und Selbstverwaltet“ und vieler lokaler Bündnisse. Wir haben mitgemacht beim bundesweiten alternativen Wohngipfel.
Gleichzeitig sind wir Teil antirassistischer Bündnisse und Mobilisierungen, waren beim NSU-Tribunal in Köln, bei der #unteilbar-Demo in Berlin oder bei We’ll come United in Hamburg. Wir bilden aber auch Bündnisse mit Initiativen, die sich für eine Re-kommunalisierung sozialer Infrastrukturen einsetzen, wie Energie und Wasser. Austeritätspolitik ist uns ein Graus und private Wohnbauförderung durch den Staat finden wir falsch.

Wir wollen in einer offenen Gesellschaft leben, die von Vielfalt geprägt ist. Monotonie und geschlossene Grenzen sind das Grauen des letzten Jahrhunderts. Wir sind neugierig aufeinander und wollen eine Gesellschaft, die keine Schubladen benutzt, um Menschen einzuteilen.

Wir wollen, dass alle da wohnen können, wo sie es möchten, dass sie ein gutes Leben führen können und dass sie mitbestimmen können, was mit ihren Häusern passiert. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle an ihren Reichtümern beteiligt werden und wo keine Regierung die gemeinsamen Güter (Wohnungen, Strom, Wasser) verkaufen darf.

 

In unserer ganz konkreten Praxis machen wir und die vielen anderen Teile der Mieter*innenbewegung vieles davon bereits: wir bilden Mieterräte, wir planen die Selbstverwaltung bei kommunalem Eigentum, wir kämpfen mit der Kampagne „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ dafür, dass die großen börsennotierten Wohnungsunternehmen keine Profite mehr machen, wir blockieren Zwangsräumungen und wir sind jeden Tag solidarisch in unseren jeweiligen direkten Kämpfen. Für uns ist das gelebte Utopie der Praxis.

Die solidarischen Städte, für die wir kämpfen, bieten gleiche Rechte für alle, unabhängig von Sprache, Pass oder Herkunft, oder wie lange man schon hier lebt.
Fragt man uns, in welcher Stadt wir leben wollen, dann antworten wir, dass wir genau hier mit den Initiativen, Protesten und den vielen Verschiedenen, die wir sind, bereits ein Stück der Utopie einer solidarischen Stadt leben.

Kotti & Co / November 2018

«Alles Weitere bei einer Tasse Tee»
Interview mit Andrej Holm und Sandy Kaltenborn
«Linke Stadtpolitik aus der Perspektive der Migration entwickeln» – das ist ein Standardsatz im Repertoire der aufgeklärten Linken. Aber was heißt das konkret, welche Haltungen, Allianzen, Akteursgruppen kommen wie ins Spiel? Fragen an den Stadtforscher Andrej Holm und den Designer Sandy Kaltenborn von Kotti & Co.

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