Solidarische Stadt

Für eine offene Gesellschaft mit gleichen Rechten für Alle

von kein mensch ist illegal, Hanau

Für globale Bewegungsfreiheit und für gleiche soziale Rechte für Alle: mit diesen Forderungen kämpfen wir als kleine aber beständige Gruppe auf lokaler bis transnationaler Ebene für eine Gesellschaft ohne Ausgrenzung und Abschiebung. Wir sind kontinuierlich an Projekten entlang der EU-Außengrenzen aktiv, u.a. bei Welcome to Europe sowie im WatchTheMed Alarm Phone. Alltäglich streiten wir für ein bedingungsloses Bleiberecht und wir engagieren uns im bundesweiten Netzwerk der Solidarity Cities. Die Solidarische Stadt steht für die Vision einer offenen, sozial gerechten Gesellschaft, die Spaltung und Ausgrenzung, Armut und Prekarisierung zu überwinden sucht und dies gleichzeitig auch in konkreten praktischen Initiativen lebendig werden lässt.

Vom Flüchtlingscafe bis zu Lampedusa in Hanau

Die Unterstützung von Geflüchteten und MigrantInnen hat in Hanau eine mittlerweile 30jährige Geschichte. Die sozialrechtliche Beratung begann bereits 1988 mit dem Sozialhilfeprojekt „Basta“. 1991 wurde im Autonomen Kulturzentrum Metzgerstrasse das Flüchtlingscafe als zusätzliche Anlaufstelle bei aufenthaltsrechtlichen Problemen eingerichtet. Neben der Einzelfallberatung wurden in den 1990er und 2000er Jahren mehrere Kampagnen mit abschiebebedrohten Flüchtlingen aus der iranischen, afghanischen und kurdisch-türkischen Community organisiert. Diese blieben allerdings auf die jeweilige ethnische Gruppe begrenzt und es gelang nicht, daraus dauerhaftere Strukturen zu entwickeln. 2005 bis 2007 kam es zu einer ersten Community-übergreifenden Initiative, als an vielen Orten um eine Bleiberechtsregelung für langjährig Geduldete gestritten wurde. In dieser Zeit organisierten sich über 20 geduldete Familien aus dem Main-Kinzig-Kreis mit ihren jeweiligen UnterstützerInnen in der „Bleiberechtsinitiative“. Als die meisten durch die inzwischen erstrittene Bleiberechtsregelung ihren Aufenthalt sichern konnten, fiel auch diese Initiative wieder auseinander.

(Lampedusa in Hanau vor dem sozialen Zentrum Metzgerstrasse)

Ende 2013 kam dann mit der Initiative „Lampedusa in Hanau“ eine beständige Selbstorganisierung von Geflüchteten aus Ostafrika (Eritrea, Somalia, Ätiopien) in Gang. Vor dem Hintergrund des Lampedusa-Unglücks im Oktober 2013 und mit den ersten erfolgreichen Kirchenasylen gegen die sogenannten Dublin-Abschiebungen im Frühjahr 2014 gelang zudem eine breitere Sensibilisierung und Solidarisierung in Hanau. Seitdem ist der Widerstand gegen Abschiebungen zu einem alltäglichen und oft erfolgreichen Kampf geworden: mittels juristischer Unterstützung der Betroffenen, mit gemeinsamen Protesten vor Ausländerbehörden und am Frankfurter Abschiebe-Flughafen, mit Kirchenasylen oder durch „privates Verstecken“ vor dem Zugriff der Abschiebemaschinerie. Dieser Zyklus hat im langen Sommer der Migration 2015 einen weiteren Schub bekommen.

Vom Sommer der Migration zum Widerstand gegen das Rollback

Refugees Welcome! Auch in Hanau und im Main-Kinzig-Kreis beteiligten sich im Herbst 2015 Tausende – wie überall quer durch Deutschland und Europa – an der Unterstützung von Flüchtlingen. Mit Spenden und Sprachkursen, durch Begleitung und Beratung, von Patenschaften bis zur Ausweitung des Kirchenasyls: eine vielfältige Solidarisierung hatte der Gesellschaft ein neues Gesicht gegeben. Darin ist die Vision für ein neues, offenes Europa von unten lebendig geworden, leider nur für wenige Monate. Denn im Wechselspiel neuer Gesetze und rechtspopulistischer Hetze wurde das Asylrecht massiv beschnitten, die Grenzkontrollen sowie Abschiebepraktiken enorm verschärft. Die vergangenen drei Jahre (2016 bis 2018) stehen für ein rassistisches Rollback mit einer (laut)starken gesellschaftlichen Polarisierung von Rechts. Die zivile Seenotrettung im zentralen Mittelmeer wurde brachial stillgelegt und kriminalisiert, das Ertrinken-Lassen offensiver denn je als Abschreckungsstrategie gerechtfertigt. Vorverlagerung der Lager nach Albanien oder Nordafrika, neue Grenzkontrollen, Ankerzentren, Schnellverfahren und Massenabschiebungen – die Riege der Innenminister von Rom über Wien bis Berlin galoppiert mit Schaum vorm Mund voran. Kann es gelingen, eine Gegenbewegung gegen diese rassistische Offensive in Gang zu bringen? Jedenfalls haben sich mittlerweile beachtliche Mobilisierungen entwickelt, in Deutschland, in Italien und quer durch Europa: Die BügermeisterInnen in Palermo, Neapel, Barcelona bis Berlin, die offene Häfen und die Aufnahme der Geretteten fordern; die Seebrücken-Bewegung, die am 7. Juli 2018 mit ersten Demonstrationen gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung begonnen hat und nun die Flüchtlingsaufnahme und Solidarische Städte fordert; die starke „ausgehetzt“-Mobilisierung in München, die „Wir sind mehr“-Demonstrationen von Chemnitz bis Rostock, und dann Unteilbar in Berlin mit sagenhaften 240.000 Menschen für eine offene Gesellschaft. Zuvor die Parade von We`ll Come United am 29. September 2018 in Hamburg, die mit 30.000 TeilnehmerInnen sehr eindrucksvoll für die Gesellschaft der Vielen demonstriert und

selbstbewusst Bewegungsfreiheit und gleiche Rechte für Alle eingefordert hat. Von den Außengrenzen bis zu den Innenstädten: überall erleben wir umkämpfte Räume in polarisierten Zeiten, in denen wir nun vor der Herausforderung stehen, diese hoffnungsvollen Mobilisierungen des Herbst 2018 zu einem „alltäglichen Aufstand der Solidarität“ zu verdichten.

(lokale We`ll Come United Demonstration in Hanau im September 2017)

Aktion BürgerInnenAsyl und Solidarität statt Spaltung

Der Rechtsruck und insbesondere die Abschiebeoffensiven der Behörden haben auch in Hanau Spuren hinterlassen. Immer wieder kam und kommt es zu Festnahmen in Wohnheimen oder auf den Ausländerbehörden, um Menschen mit Gewalt außer Landes zu schaffen. Dennoch: viele – oftmals stille – Strukturen der Solidarität haben sich gehalten. Es sind in den letzten Jahren neue Bekannt- und Freundschaften entstanden, und sowohl ein lokale Arbeitskreis Asyl als auch die Bündnisinitiative Solidarität statt Spaltung haben sich konsolidiert. Im Mai 2017 startete – als ziviler Ungehorsam gegen die Sammelabschiebungen nach Kabul – in Hanau die Initiative BürgerInnenAsyl: „Wir werden von Abschiebungen bedrohten Flüchtlingen aus Afghanistan Bürgerasyl gewähren, das heißt, wir werden Platz machen in unseren Wohnungen und notfalls die Menschen verstecken, die in Krieg und Verfolgung zurückgeschickt werden sollen“. Über 60 Hanauer BürgerInnen aus unterschiedlichen Bereichen haben diese Erklärung mit ihrem Namen gezeichnet.

(Demonstration gegen Dublin-Abschiebungen am Frankfurter Flughafen)

„Es gibt keine Flüchtlings-, es gibt nur eine Verteilungskrise.“ So brachte es das Hanauer Initiativenbündnis „Solidarität statt Spaltung“ in ihrem Gründungsaufruf auf den Punkt – und kritisiert u.a. die Mangelverwaltung im sozialen Wohnungsbau und die zunehmende Prekarisierung in der Arbeitswelt. Ein Umsteuern und eine Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums wäre möglich und nötig: „Wir wollen ein Hanau und einen Main-Kinzig-Kreis für Alle. Ein menschenwürdiges Leben, Wohnen und Arbeiten mit gleichen sozialen und politischen Rechten. Für alle, die hier leben und die hier neu ankommen.“

So richtig und nötig diese Proklamation ist, so fällt es im Alltag doch schwer, unterschiedliche Gruppen von Betroffenen in gemeinsame Kommunikation oder gar Aktion zu bringen. Familien mit deutschem oder auch türkischem Pass, die schon lange in Hanau leben und verzweifelt nach bezahlbarem Wohnraum suchen, haben eine gänzlich andere Realität als Geflüchtete, die versuchen, endlich aus dem Lager ausziehen zu können. Und südosteuropäische WanderarbeiterInnen, die zur Zeit in allen Großstädten – und auch in Hanau – die größte Gruppe der Obdachlosen bilden, unterliegen wieder anderen Bedingungen der Ausgrenzung. Sie alle werden in Konkurrenz zueinander gezwungen, wenn es immer weniger (echte) Sozialwohnungen gibt und keine Neuen mehr gebaut werden. Auf dem Arbeitsmarkt besteht eine ähnliche Situation, denn das Spektrum der prekär Beschäftigten ist mit den Geflüchteten zunächst um eine Gruppe größer geworden, denen wenig Alternativen bleiben als sich bei Leihfirmen zu verdingen. Auch hier werden Konkurrenzen und Spaltungen erzeugt und ausgenutzt, um die Ausbeutungsbedingungen zu verschärfen. Zwar gibt es nette solidarische Momente und viel Applaus, wenn Geflüchtete von Lampedusa in Hanau bei der 1. Mai-Kundgebung oder im Streikzelt der IG Metall einen Redebeitrag halten. Doch alltäglichere Verbindungen bleiben mühselig oder gelingen zu selten, und bei gemeinsamen Kämpfen und übergreifenden Dynamiken für eine Solidarische Stadt für Alle stehen wir auch in Hanau noch sehr am Anfang.

(Abschlussfeier von drei eritreischen Freunden nach erfolgreichem Kirchenasyl in Hanau)

Von der Seenotrettung bis zur Solidarischen Stadt …

Über eine Million Menschen haben in den letzten Jahren in Europa ihr Bleiberecht durchgesetzt und kämpfen mit diesen Erfahrungen im Gepäck um soziale Teilhabe. Eine weitere Million wird die Suche nach einem sicheren Ort nicht aufgeben und der Abschiebepolitik die Stirn bieten. Dazu kommen Hunderttausende, die sich vom mörderischen Grenzregime nicht abschrecken lassen und weiter in die Boote steigen. Wir wagen nicht zu prophezeien, wie Europa in fünf Jahren aussehen wird. Doch die globalen Flucht- und Migrationsbewegungen werden höchstwahrscheinlich die Entwicklungen so maßgeblich beeinflussen, wie es sie in den letzten fünf Jahren bereits getan haben. „Still Moving Europe“ – die Kämpfe der Migration werden quer durch Europa und nicht zuletzt in Deutschland weiterhin für bewegte Zeiten sorgen. Das ist das lebendige soziale Terrain, in dem Selbstorganisation und emanzipative Linke ineinander wirken können. Das Konzept der Solidarity Cities hat sich in den letzten zwei Jahren zu einem alltagspraktischen wie perspektivischen Ansatz der antirassistischen Bewegung entwickelt. Ausgangspunkte sind zumeist Kampagnen gegen Abschiebungen, die Schaffung von Schutzräumen und AktionBürgerInnenAsyl sowie aktuell die Aufnahme von Geflüchteten und Geretteten aus Südeuropa. Die weiteren Aktionsfelder der Solidarity City Initiativen folgen den elementaren Bedürfnissen der Ausgegrenzten, der städtischen Unterschichten und der illegalisierten Migrant*innen – für gleiche Rechte für alle Menschen!

„In welcher Gesellschaft wollen wir leben?!“ – das erscheint in der Tat als die zentrale Frage. Im Ansatz der Solidarity Cities sehen wir das Potential, zu einer neuen Erzählung emanzipatorischer Bewegungen beizutragen. Zu einer konkreten Vision, die von vielfältigen und miteinander verbundenen Alltagskämpfen ausgeht und die sowohl der neoliberalen Austeritätspolitik wie auch den rechtspopulistischen Angriffen und Widerwärtigkeiten die Alternative einer offenen und solidarischen Gesellschaft entgegenstellt.

kein mensch ist illegal/Hanau im November 2018

Kontakt: kmii-hanau@antira.info